: Katya Balen
: October, October Die weite, wilde Welt wartet auf mich
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446278561
: 1
: CHF 12.50
:
: Kinderbücher bis 11 Jahre
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Katya Balen über neuen Freundschaften, Freiheit und die Liebe zur Natur. 'Großartig erzählt von einer bemerkenswerten, neuen Autorin. Ein zukünftiger, wilder Klassiker!' The Times
Eine bezaubernd schöne Geschichte über Neuanfänge, Freiheit und die Wildheit, die in uns allen steckt. October lebt mit ihrem Vater in einer Waldhütte, im Einklang mit der Natur und fernab anderer Menschen. Geheimverstecke zwischen den Bäumen, Winterschwimmen im Teich, nächtliche Lagerfeuer und ein gerettetes Eulenküken: Das ist Octobers Welt. Bis zu ihrem elften Geburtstag, als ihr Vater einen schweren Unfall hat. Während er sich erholt, muss October zu ihrer Mutter in die Großstadt ziehen. Dort ist alles fremd: das sterile Haus, die Schule, die Frau, die ihre Mutter ist. October muss erst neue wilde Orte und Freunde finden, um zu erkennen, dass Veränderungen zwar Angst machen können, am Ende aber oft etwas ganz Wunderbares sind.

Katya Balen studierte Englisch und ist Mitbegründerin von 'Mainspring Arts', einer gemeinnützigen Organisation, die es neurodiversen und autistischen Menschen ermöglicht, sich kreativ auszuleben. Wenn sie nicht gerade Bücher schreibt oder Projekte plant, scrollt sie gerne durch Tierschutz-Websites, backt und versucht, all ihre Zimmerpflanzen am Leben zu erhalten. Sie lebt in London, zusammen mit ihrem Partner und zwei Hunden. October, October - Die weite, wilde Welt wartet auf mich (2023) wurde mit der Yoto Carnegie Medal ausgezeichnet und ist ihr erstes Kinderbuch bei Hanser.

1


Wir finden die Eule weit hinten in unserem Wald, am Morgen nach dem großen Sturm. Vom Wind zerzaust, die Flügel steif gefroren, die runden Augen glasig. Mit einem Finger tippe ich leicht auf ihr Gefieder und bin überrascht, wie lebendig es sich anfühlt, obwohl die Eule eigentlich schon nicht mehr da ist und Dad gerade ein Loch für sie in der regensatten Erde gräbt.

Ich bücke mich und hebe den Vogel hoch. In meinen Händen kommt er mir so groß vor, doch die hohlen Knochen machen ihn leicht, fast erwarte ich, dass die Eule sich jeden Moment die Starre aus dem Gefieder schüttelt und davonfliegt.

Manchmal sehe ich zwischen den Bäumen Eulen im Flug aufblitzen. Ich höre ihr leises Rufen, vielleicht sind das ja Abendlieder, die sie einander vorsingen. Schön sind diese Vögel, wie in der Dunkelheit verborgene Geheimnisse. Ich finde nicht, dass so eine Eule in ein Loch in der Erde gehört, und das sage ich auch zu Dad, doch er meint, das sei nun mal der Kreislauf des Lebens und die Eule werde nun eben wieder zu einem Teil der Natur. Sie verwest in der Erde, bis nur noch ihre Knochen übrig sind; mit ihrem Fleisch wird sie die Erde nähren, und aus ihren Federn werden die Wurzeln von Pflanzen wachsen. Fast wünschte ich mir, ich könnte dabei zusehen. Einmal habe ich ein Fuchsskelett gefunden, einen Kreis aus Knochen, dazwischen einzelne Fellfetzen. Der schräg zulaufende Schädel und die gebogenen Rippen schimmerten hell und schön wie Elfenbein.

Noch eine letzte Schaufel Erde, dann setzt sich Dad und lehnt sich an einen Baumstamm. Er atmet tief aus, Atemwölkchen schweben durch die Luft. Ich lege den Vogel ins Loch und markiere die Stelle mit einem glatten Stein, damit ich sie immer wiederfinde.

Nachdem wir die Eule begraben haben, gehen wir durch den Wald und beseitigen die gröbsten Schäden, die Wind und Regen hinterlassen haben. An der alten Eiche, deren Äste sich ausstrecken wie die Arme eines gigantischen Tintenfisches, hat ein Blitz geleckt. Doch insgesamt sind die Schäden nicht so schlimm wie nach früheren Unwettern, eher fühlt es sich so an, als hätte der Sturm ein Großreinemachen veranstaltet und alles sei wieder neu und frisch. Mit meinen Adleraugen suche ich rasch den Boden ab und finde wie immer alle möglichen Schätze in der vom Regen aufgeweichten Erde: Tonscherben und etwas, was nach einer römischen Münze aussieht, Edelsteine aus blaugrünem, glatt geschliffenem Glas. Ich stecke alle meine Fundstücke in die Tasche, wo sie sich laut schimpfend gegenseitig anrempeln, weil mir jedes dringend seine Geschichte erzählen will, aber das hat Zeit bis später. Jetzt müssen wir erst einmal hacken und schaben, harken und schleppen, bis die halb abgebrochenen Äste und gespaltenen Stämme aufgeräumt sind und der zerrupfte Waldrand wieder besser aussieht.

Ich helfe Dad, die besten der abgebrochenen Äste auf den Hänger zu laden. Später hacken wir sie zu handlichen Scheiten, entweder als Brennholz für unseren Ofen oder vielleicht auch für ein Lagerfeuer. Als wir fertig sind, fahren wir mit dem Quad auf Schlammwegen zurück zum Haus, wo wir das Holz gleich im Schuppen lagern. Das ist die Arbeit, die ich am wenigsten gerne mache; ich bekomme Muskelkater davon, und egal, wie viel Holz ich vom Hänger in den Schuppen schleppe, der Haufen scheint nie kleiner zu werden. Dann denke ich an die Geschichten, die sich in meiner Tasche verbergen, und schon spüre ich, wie Anfänge, Mittelteile und Enden sich in meinem Gehirn miteinander verweben, und auf einmal arbeiten meine Muskeln von ganz allein. Wieder und wieder greifen meine Hände nach Holz, bis sie plötzlich nur noch Luft ertasten und der Hänger leer ist. Dad und ich steigen aufs Quad, um eine letzte Runde durch den Wald zu drehen und zu schauen, ob noch irgendwo etwas herumliegt.

Dad lässt mich ans Steuer, obwohl meine Beine noch nicht lang genug sind, um mit den Füßen die Gangschaltung zu bedienen. Deswegen übernimmt er das. In großen Schleifen kehren wir zurück zur Eule.

Warte mal sagt Dadmach mal langsam aber ich fahre ohnehin schon so langsam, dass ich nur noch vollständig anhalten kann. Er steigt ab, schiebt einen Vorhang aus Riedgras beiseite und bückt sich.Komm, schau dir das an sagt er, und ich hüpfe vom Quad und spähe ins Dunkel; vielleicht hat er am Boden noch mehr Schätze entdeckt, die der Regen an die Oberfläche gespült hat.

Eine Eule. Ein kleines, flauschiges Bündel von einer Babyeule.

Ein herzförmiger weißer Fleck im Gesicht, der sich gerade erst ausbildet. Weit aufgerissene Augen. Ein winziges spitzes Schnäbelchen. Eine breite, zerbrechliche Brust. Bei jedem Atemzug bebt der kleine Körper vom Kopf bis zu den Spitzen der angelegten Flügel.

Ich strecke die Finger nach der Eule aus, aber Dad fängt meine Hand sanft ab und schüttelt den Kopf.Wir müssen sie in Ruhe lassen. Kann sein, dass eine andere Eule kommt, um nach ihr zu sehen, und wenn wir eine so kleine Eule mitnehmen …

Seine Stimme wird immer leiser, und am liebsten würde ich ihm die unausgesprochenen Worte aus dem Mund reißen und in den immer dunkler werdenden Himmel werfen, denn ich will diese Eule nicht so ganz allein zurücklassen, verborgen in all dem zerdrückten Laub.

Ich soll schon mal ins Haus gehen, sagt er, während er das Quad unterstellt, soll mir etwas Heißes zu trinken machen und mich ein bisschen aufwärmen, bevor wir noch mal losziehen, um uns etwas zum Abendessen zu besorgen.

Im Haus stelle ich den Wasserkessel auf den Holzofen und setze mich in meinen Lieblingssessel. Er ist geflickt und durchgesessen und sieht aus, als wäre er mindestens hundert Jahre alt. Auf einer Seite quillt langsam die Polsterung heraus, wie eine Gewitterwolke sieht sie aus.

Ich mach’s mir gemütlich und schlage nach, wie lange es dauert, bis von einem begrabenen Vogel nichts mehr übrig ist als hohle Knochen, die sich unter meinen Händen wie Luft angefühlt hatten. Alle unsere Bücher sagen, sechs Monate. Das heißt, im März wird unsere Eule schneeweiß in der dunklen Erde unter meinen Füßen liegen. Wo das Eulenbaby dann sein wird, daran denke ich lieber nicht, aber ich kreuze so fest die Finger, dass die Knöchel sich weiß färben, und wünsche mir, dass Vater oder Mutter Eule zu ihrem Kind zurückkehren.

Ich lese alles nach über Eulen und ihre Ernährungsgewohnheiten. Am liebsten mögen sie alle Arten von Mäusen. Meist verschlingen sie ihre Beute vollständig, und was sie nicht verdauen können, würgen sie wieder hoch. Das ist das Gewölle. Darin findet man Haut und Knochen und Fell von allem, was sie gefressen haben. Wer ihnen zum ersten Mal Nahrung bringt, lese ich, den sehen sie für immer als Eltern an, selbst wenn es nur eine Handpuppe mit einer Maus in der Pfote ist.

Ich höre auf zu lesen und wasche mir meine verschwitzten Haare in der Küchenspüle. Ich schüttele sie trocken, sodass die Tropfen wie Perlen um mich herum durch die Luft fliegen.

Wir leben im Wald. Wir sind Wilde.

Heute Abend heulen wir den sternenübersäten Himmel an. Wir werfen unsere Stimmen hinauf, mischen sie und formen sie wie Töpfer ein Stück Ton. Wir können den Klang in die Länge ziehen, bis er hinaufreicht in die höchsten Baumkronen und hinunter in die von Geheimnissen angefüllte Erde oder bis er sich in den Brombeerranken verfängt und über den Teich gleitet, denn diese Welt gehört uns, und wir sind allein.

Nur wir zwei.

Ein von zwei Menschen bewohntes Fleckchen Erde in einem Flecken der Welt, der klein ist wie eine Murmel. Wir sind winzig, und wir sind alles, und wir sind wild.

Wir leben im Wald.

Wir leben im Wald, und wir sind wild.

Unser Haus steht mitten im Wald. Gebaut wurde es aus Bäumen wie denen, die es einrahmen. Damit daraus ein Haus wurde, mussten sie gefällt, glatt gehobelt und geschliffen werden, und natürlich sehen sie jetzt ganz anders aus als die sich draußen in alle Richtungen streckenden Äste. Trotzdem gefällt es mir, so mitten im Wald zu sein. Wie ein Geheimnis fühlt es sich an, dass wir hier sind, verborgen und vergessen auf eine gute Art, auch wenn es schon Leute gibt, die wissen, dass wir hier sind. Ein oder zwei Mal im Jahr fahren wir in den nächstgelegenen Ort, ein Städtchen, und kaufen alles, was wir nicht selbst anbauen oder herstellen können;...