Kapitel 1
Unsere Wurzeln
Mein Name ist Çetin Gültekin. Seit dem 19. Februar 2020 versuche ich, ohne meinen Bruder zu überleben. Wenn die Dunkelheit in mir jedes noch so kleine Licht auslöscht, dann kommen die quälenden Gedanken. Sie sind falsch, aber sie sind da. Wäre meine Familie nicht in Armut aufgewachsen, hätte mein Vater nicht das Geld gebraucht, dann wäre er nie nach Deutschland gekommen. Dann hätte der Mann mit den kalten Augen Gökhan nicht mit zwei Schüssen hingerichtet. Dann wäre er jetzt bei mir.
Mein Verstand sagt mir, dass Gott entscheidet, wann er einen Menschen zu sich ruft. Aber mein Herz will es nicht verstehen. Nachts verfolgt mich diese Frage: Wo hätten wir die Weichen anders stellen müssen, um Gökhans Tod zu verhindern? Im Nachhinein erscheint mir unser ganzes Leben wie eine Hinführung auf seinen viel zu frühen Tod. Glieder einer Kette, die ineinandergreifen und sich am Ende miteinander verbinden. Der Kreis schließt sich, und es gibt keinen neuen Anfang, keinen neuen Tag.
Ich finde keinen Trost, aber ich suche ihn, dort, wo alles begann. Wenn ich meine Augen schließe, steigt mir der Duft von Jasmin und Pfirsichblüten in die Nase, die reine Luft der Berge füllt meine Lungen. Die Sonne geht langsam über den Hügeln auf und taucht die Landschaft in goldenes Licht. Tahir. Genau dort, über dreitausendsechshundert Kilometer weit entfernt von Hanau, im Landkreis Eleşkirt, hat meine Familie ihre Wurzeln. Die Gültekins.
Unsere Geschichte beginnt in dieser kleinen Stadt unweit von Ağrı, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz in Ostanatolien, nahe der armenischen Grenze, der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan und des Irans, wo jeder Millimeter Erde ein Stück Geschichte in sich trägt. Ein Ort, an dem hauptsächlich kurdischstämmige Menschen leben, aber im Laufe der Zeit verschiedenste Ethnien ihre Heimat fanden, wodurch sich eine besondere Kultur entwickelte. Mit all ihren vielfältigen Einflüssen. Eine beeindruckende Landschaft, viel unberührte Natur – aber auch, speziell im Winter, eine der härtesteten Klimabedingungen des Landes. Extreme Minusgrade, die im Kontrast zu den einladenden Herzen und der Gastfreundschaft der Bewohner stehen. Der Ort liegt vor der Kulisse des Ararat, mit 5165 Metern der höchste Berg des Landes. Laut des Alten Testaments soll nach der Sintflut hier die Arche Noah gestrandet sein. Und auch wenn verschiedene Quellen, unter anderem der Koran, auf einen anderen Ort im Osten der Türkei verweisen, genießt dieser Berg Legendenstatus.
Tahir zählt als Kleinstadt, aber es fühlt sich an wie ein Dorf: Jeder ist um irgendwelche Ecken mit jedem verwandt, alles ist familiär. Eine Großfamilie waren wir im wahrsten Sinne des Wortes. Opa Hasan, der Vater meines Vaters, hatte insgesamt achtzehn Kinder, was damals nichts Ungewöhnliches war. Von seiner ersten Frau hatte er sieben, von der zweiten weitere elf. Mein Vater Behçet war das erste Kind aus zweiter Ehe. Im Mai 1945 kam er auf die Welt, während der Zweite Weltkrieg noch andauerte. Und auch wenn die Türkei nicht aktiv daran beteiligt war, so konnte man die Folgen doch überall spüren. Er war unter schwierigen Umständen aufgewachsen, alle Kinder mussten versorgt werden, aber viel hatte man nicht übrig. Achtzig Prozent der Landesbevölkerung lebten zu dieser Zeit in Dörfern. Die Elektrizität kam dort sehr spät, und wenn es nachts dunkel wurde, benutzte man eben die Gaslampe. Radio, Telefon und Fernsehen gab es noch nicht.
Als kleiner Junge arbeitete mein Vater schon auf dem Feld mit – so wie die anderen Kinder auch. Mit einer Sense wurde gemäht, Getreide, Stroh und Heu zusammengebunden, sodass man es transportieren konnte. Besonders schwierig war der Weg zurück ins Dorf, ein langer Marsch zu Fuß, mehrere Kilometer, mit einem großen Bündel auf dem Rücken. Da er immer nur ein einziges tragen konnte, bezahlte mein Vater jemanden, der einen Ochsenkarren besaß, dafür, das übrige Stroh mitzunehmen. Was ihn fast die Hälfte seines Verdienstes kostete. Angekommen im Dorf, wurden erst die Körn