: G.Z. Schmidt
: Adam und die Jagd nach der zerbrochenen Zeit
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446278820
: 1
: CHF 10.70
:
: Kinderbücher bis 11 Jahre
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Kann man die Vergangenheit ändern? G.Z. Schmidts magisches Zeitreise-Abenteuer - ein atmosphärischer, zum Mitfiebern spannender Schmöker für alle, die fantastische Geschichten lieben
Ein magisches Versprechen stellt Adams Welt auf den Kopf. 'Dir stehen fantastische Dinge bevor', prophezeit ihm ein mysteriöser Mann, kurz bevor Adam auf dem Dachboden eine verstaubte Schneekugel findet. Als er sie schüttelt, geschieht Unfassbares: Adam reist in der Zeit zurück! Mal ist es 1922, dann 1935, ein andermal 1967. Nach und nach stellt Adam eine Verbindung zwischen den Zielen seiner Zeitreisen her. Sie alle scheinen mit einer alten Legende zu tun zu haben: Drei magische Gegenstände machen es möglich, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu beeinflussen. Einer davon ist Adams Schneekugel. Nun ist es an ihm, die beiden anderen Gegenstände zu finden - bevor sie in die Hände gefährlicher Gegenspieler fallen.

G.Z. Schmidt wurde in China geboren und wuchs in den USA auf. Sie studierte Wirtschaftswissenschaften am renommierten Wellesley College in Massachusetts. Am liebsten schreibt sie über Außenseiter und ungelöste Rätsel an realistischen Schauplätzen mit einer Prise (oder einem Eimer voll) Magie. Mit ihrer Familie lebt sie in Südkalifornien. Adam und die Jagd nach der zerbrochenen Zeit (2023) ist ihr erstes Kinderbuch bei Hanser.

3

Ein Abstecher auf den Dachboden


Ich habe bereits erwähnt, dass Adam ein sonderbarer Junge war.

»Adam ist ein guter Schüler«, schrieb Ms. Basil, seine Klassenlehrerin in der sechsten Klasse, in sein Halbjahreszeugnis, »aber er hat keinerlei Kontakt zu seinen Mitschülern.«

Im Jahr zuvor hatte Mr. Lemon, sein Klassenlehrer in der Fünften, bemerkt: »Adam sitzt in der Pause allein abseits und liest die ganze Zeit. Tagaus, tagein.«

Und wiederum ein Jahr davor hatte Mrs. Rosemary, seine Klassenlehrerin in der Vierten, geschrieben: »Adam hat das ganze Jahr im Unterricht kein Wort gesprochen und sich nur schüchtern gemeldet, wenn er mal auf die Toilette musste.«

Seit dem Kindergarten hielt sich Adam von anderen Kindern fern. Im Klassenzimmer suchte er sich immer einen Platz möglichst weit weg von den anderen. Beim Mittagessen saß er allein. Und wenn ihn in der Pause jemand aufforderte, bei einem Spiel mitzumachen, sei es Verstecken, Himmel-und-Hölle oder Fangen, schüttelte er immer nur den Kopf. Er zog sich in ein unsichtbares Schneckenhaus zurück.

Nun ist es mit dem Sich-Abkapseln aber so eine Sache: Tut man es zu oft, gehen die anderen im Gegenzug dazu über, einen zu meiden. Und so kam es, dass die Kinder irgendwann damit anfingen, gemeine Gerüchte über Adam zu verbreiten. Und sich Spitznamen für ihn auszudenken. Sachen von ihm verschwanden und tauchten in der Toilette wieder auf. In der Sechsten machten sich ein paar Klassenkameraden einen Spaß daraus, ihn in die Schulspinde zu schubsen, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot.

Doch zu ihrem Leidwesen war Adam nicht nur so gut wie unsichtbar, sondern auch flink, sodass es ihm in der Regel gelang, den Schlägertypen aus dem Weg zu gehen.

Die Schulpsychologin Ms. Ginger, eine resolute Dame mit feuerrotem Haar, glaubte fest daran, dass es für jedes Problem eine einfache Lösung gebe. Sie sprach mit Adam regelmäßig über seine Schüchternheit und teilte Onkel Henry unverblümt ihre unverrückbare Meinung mit.

»Als amtlich zugelassene Psychologin empfehle ich Adam, einem Verein beizutreten, damit er Kinder mit ähnlichen Interessen kennenlernen kann. Ich selbst bin ehrenamtliches Mitglied des Amateurtheatervereins. (Im Sommer führen wir übrigens unser erstes Musical auf. Ich spiele die Meerjungfrau im zweiten Akt. Bitte denken Sie daran, Karten vorzubestellen.) Na, jedenfalls weiß ich aus eigener Erfahrung, wie wunderbar außerschulische Aktivitäten sein können. Die Pfadfinder sind beispielsweise eine hervorragende Möglichkeit, den Charakter zu bilden. (Fragen Sie nur meine reizenden Söhne — wussten Sie, dass mein Ältester letzten Monat sein zweites Verdienstabzeichen bekommen hat? Ich bin sehr stolz auf ihn.) Von der schmucken Pfadfinderkluft gar nicht zu reden …«

Doch außerschulische Aktivitäten setzten Freizeit und Geld voraus, und weder mit dem einen noch mit dem anderen waren Adam und sein Onkel gesegnet. Daher trug Adam keine schmucke Kluft, sondern gebrauchte Klamotten aus Secondhandläden. Onkel Henry besaß weder ein Auto noch ein Fernsehgerät.

Aber wenigstens mussten sie nie hungern. Onkel Henry stellte neben dem Brot auch seine Pasta selbst her, weil das billiger war, als sie im Lebensmittelgeschäft zu kaufen. Oft aßen sie auch Brotreste aus der Bäckerei, die sie in Wassersuppe tunkten, damit sie nicht so altbacken schmeckten.

Adam wusste, dass sein Onkel arm war, und ging ihm zur Hand, wo er konnte. Es machte ihm nichts aus, dass er kein Taschengeld bekam wie die anderen Kinder. An seinem letzten Geburtstag hatte er sich nicht darüber beklagt, dass er kein einziges Geschenk bekam, und schon gar nicht das rote Siebengangrad, das er monatelang im Schaufenster des Fahrradgeschäfts bewundert hatte. Er machte einen Bogen um Buchläden und lieh sich Bücher umsonst in der öffentlichen Bibliothek aus. Der einzige Nachteil dabei war, dass Abenteuergeschichten mit Lese- oder Kreuzworträtseln zum Ausfüllen meistens schon vollgekritzelt waren.

Ein Vorteil war, dass Onkel Henry zu den besten Bäckern in der Umgebung gehörte, auch wenn das offenbar zu wenige Leute wussten. Adam musste zwar auf das Eis verzichten, das es in der Schulcafeteria für einen Dollar gab, doch dafür erwarteten ihn zu Hause viele Leckereien.

Nein, obwohl Adam kein Geld hatte und Mitschülern auf den Schulkorridoren aus dem Weg ging, war er kein schlechter Junge. Das habt ihr wahrscheinlich schon geahnt, seit ihr wisst, wie er Speedy in der Backstube das Leben gerettet hat.

Am Ende konnte er die Maus jedoch nicht retten.

So wie er auch seine Eltern nicht hatte retten können.

Im ersten Fall war der Verlust zwar traurig, aber überhaupt nicht verwunderlich. Denn was Adam nicht wusste: Speedy war schon eineinhalb Jahre alt gewesen, als er ihn rettete. Und Mäuse leben normalerweise nicht länger als zwei Jahre.

Und was den Unfall seiner Eltern anging, so hätte Adam die Katastrophe auf keinen Fall verhindern können. Aber ich greife vor.

Etwa eine Woche nachdem der Fremde im Regenmantel die Bäckerei besucht hatte, eröffnete Onkel Henry seinem Neffen, dass sie die Miete für diesen Monat nicht bezahlen konnten.

»Auf dem Dachboden haben wir alte Sachen, die wir nicht mehr brauchen«, sagte er, vermied es aber, Adam dabei anzusehen. »Wenn es dir nichts ausmacht, nach dem Frühstück ein paar herauszusuchen, kann ich sie später im Pfandleihhaus verkaufen …« Er verstummte verlegen.

Adam knabberte an seinem letzten Stück Toast und nickte widerwillig. Der kleine Speicher war staubig und muffig und beherbergte Dutzende herumkrabbelnde Spinnen und anderes grausliges Getier mit mehr als sechs Beinen. Adam hatte keine Angst vor Ungeziefer, konnte es aber überhaupt nicht leiden, wenn es plötzlich wie aus dem Nichts auftauchte. Er konnte es grundsätzlich nicht leiden, wenn etwas wie aus dem Nichts auftauchte.

Nach dem Frühstück erklomm er die Leiter, die von ihrer Wohnung zum Dachboden hinaufführte. Vergessene Kartons und verbeulte Koffer standen verstreut auf den knarrenden Dielen. Im Licht eines weißen Sonnenstrahls, der gedämpft durch ein kleines rundes Fenster fiel, wühlte sich Adam durch den Raum. Nach halbstündiger Suche hatte er ein paar Gegenstände auf die Seite gelegt, von denen er glaubte, dass sie sich für eine anständige Summe verkaufen ließen — hauptsächlich Kerzenständer, überzähliges Silberbesteck, alte Vorhänge und rostiges Werkzeug.

Dann geschah das Unvermeidliche: Ein Karton in der Ecke erregte seine Aufmerksamkeit. Die Pappe war abgenutzt, das beschriftete Etikett darauf verblasst. Aber der vertraute Familienname war noch zu erkennen.Tripp.

Adam schlug das Herz bis zum Hals. In diesem speziellen Karton hatte er nur ein paarmal in seinem Leben gestöbert — und das aus gutem Grund. Aber heute verspürte er den Drang, ihn zu öffnen. Eine muffige Staubwolke schlug ihm entgegen, als er vorsichtig den Deckel hob. Als Entwicklungshelfer und begeisterte Reisende hatten seine Eltern eine umfangreiche Sammlung an gedruckten Landkarten und Atlanten zusammengetragen. Soweit Adam wusste, hatten sie einer Art Forscherklub angehört. In dem Karton lagen mehrere von diesen Karten und dicken Büchern, eingebettet zwischen Reisemitbringseln aus aller Welt. Adam nahm eine aus Holz geschnitzte Muschel heraus, die seine Eltern von der Küste Brasiliens mitgebracht hatten. Darunter kam ein Stück Vulkangestein aus Hawaii zum Vorschein, ein zackiger Klumpen, der eher wie ein zerknautschter schwarzer Küchenschwamm aussah. Bei ihrem Besuch der tropischen Insel hatten seine Eltern angeblich einen erloschenen Vulkan bestiegen. An den Stein schmiegte sich eine lächelnde Porzellankatze, deren Körper mit chinesischen Schriftzeichen bemalt war, ein Erbstück seiner Mutter aus ihrem Geburtsland.

Adam förderte noch verschiedene andere Gegenstände zutage und legte sie neben sich auf den Boden — Schlüsselanhänger, Kunststoffbecher, auf denen in bunten Buchstaben die Namen ferner Städte prangten, Perlenarmbänder, eine alte Eintrittskarte für einen Rummelplatz in New Jersey —, bis er die verblichene Ansichtskarte fand. Seine Eltern hatten sie ihm aus Norwegen geschickt, nur wenige Tage vor dem Unfall. Wie der Karton war die Karte an den Ecken abgestoßen, und die Tinte war...