: Rolf Völkel
: Elternhaus der Angst - Autobiografischer Roman einer gewaltvollen Kindheit
: Verlag DeBehr
: 9783957538154
: 1
: CHF 4.00
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 206
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Gewalt stand bei uns auf der Tagesordnung. Meine Mutter steckte unzählige Schläge ein, schlug jedoch ebenfalls allzu gern mit allem, was ihr in die Hand fiel, auf mich ein. Mich packte mein Vater am liebsten am Hals und drückte die Kehle, bis ich ohnmächtig wurde. Vielleicht lag es daran, dass ich als ungewollter lästiger Esser in einer Silvesternacht volltrunken gezeugt wurde. Meine Schwester musste andersartige Übergriffe erdulden, anstatt geschwisterlich zusammenzuhalten, ließ auch sie mich täglich ihre Verachtung spüren. Ich nagte am Hungertuch. In diesen Notzeiten gingen wir Kinder mit der Mutter zum Ährenlesen, Kartoffeln stoppeln und Zuckerrüben klauen. Alles war daheim weggeschlossen, das Brot, die Marmelade, auch der selbstgemachte Rübensaft. 'Wo kommen wir hin, wenn so viel gefressen wird', war der Lieblingsspruch meines Vaters, der es sich selbst stets schmecken ließ. Ich war die billigste Arbeitskraft. Meine Unterernährung und der Verdacht auf Tuberkulose bedeuteten keine Schonung. Eines Tages würde ich das Monster töten. Als Kind fehlt mir die Kraft dazu. Doch wer wusste schon, ob es mir jemals gelänge, das Erwachsenenalter zu erreichen, wenn man mir ständig nach dem Leben trachtete. Die Hände meines Vaters waren bereit, einen Kindsmord an seinem Sohn zu begehen. Meine Eltern hatten schon meinen Großvater auf dem Gewissen, den sie bei den Nazis in eine Nervenheilanstalt hatten einweisen lassen, was einem sicheren Todesurteil entsprach. Und ich war weniger wert als ein Hund. Die erschütternde Autobiografie einer Kindheit und Jugend voller Entbehrungen und Brutalität in der Nachkriegszeit.

 

Kapitel 2

Den ganzen Sommer barfuß laufen macht auch keinen Spaß. Zumal, wenn einem nur die Bekleidungsstücke gehören, welche den Körper bedecken. Nun ja, womöglich verfügt Annerose über ein wenig mehr Klamotten, als Mädchen ist es ihr zu gönnen. Ohne dies auszusprechen, herrscht bei uns eine Hierarchie wie in einem Wolfsrudel. So geschieht das auch am Mittagstisch. Als Erster macht sich Franz mit den besten Stücken den Teller voll. Dann unsere Mutter. Wenn noch etwas übrig bleibt, ist die liebe Annerose an der Reihe, der eventuelle Rest wird mir überlassen. Genau wie in einem Raubtierrudel, nur bei uns fletschen die Hungerleider nicht so laut die Zähne.

Heute war wieder nichts Essbares im Brotkasten, nur gut, dass es den Schulkameraden Günter Mehlhorn gibt. Eine halbe Schnitte von seinem Schulbrot kann er abgegeben. Wer erlaubt schon, die Hausaufgaben abzuschreiben, dazu sogar die Hälfte seines Frühstücks verspeisen zu dürfen. Der Günter ist wirklich ein guter Kamerad, den man ganz sicher nur einmal auf der Welt findet. Vielleicht gelingt es eines Tages, sich dafür erkenntlich zu zeigen. Das darf natürlich keiner wissen, schon gar nicht unser Vater.

Mein größter Wunsch wäre, wenigstens Brot im Überfluss zur Verfügung zu haben. Dann gibt es Leute, die bestreichen ihre Stullen sogar mit Butter. Wenn wir solch einen Brotaufstrich kaufen könnten, wäre ein völlig neues Leben möglich. Das wirkt sich aus auf den Geist und die Seele, es erlaubt ein erweitertes Denkvermögen. Satt zu sein, empfinden Hungrige als eine Art Lebensglück, nicht jedem Menschen wird das vergönnt. Vielleicht gelingt es einmal, bessere Zeiten zu erleben. Notfalls stehen mir noch rohe Zuckerrüben, zudem die Krautköpfe zur Verfügung, welche für die Stallhasen bestimmt sind. Sicher würde damit der Zorn von Franz auf mich hereinbrechen, denn die Tierchen sollen für ihn einen fetten Braten ergeben: „Kinder brauchen kein Fleisch, schon gar nicht solche wie wir. Ja, das wäre sogar ungesund, eine gute Körner- oder Weißkohlsuppe ist auch wesentlich bekömmlicher“, sagt er.

Der bringt es fertig und frisst ein ganzes Kaninchen alleine auf, dabei stört ihn nicht, wenn seine Familie zuschaut. Obwohl er genau weiß, wie sehr denen der leere Magen in den Kniekehlen hängt.

Oder es gibt Abnehmer für den Schlachtkörper, schließlich braucht der feine Herr auch ein bisschen Kleingeld. Man gönnt sich ja sonst nichts. Das Gleiche trifft auf seinen Sohn zu, diesmal wird das mühsam erarbeitete Geld besser versteckt. Dass es nicht wieder spurlos aus der Hosentasche verschwindet. Zumal keiner etwas bemerkt oder gar gestohlen haben will.

Eine wunderbare Familie, wie die ihre Kinder beschützt und behütet. Heute kommt mein Freund Klaus in unsere Wohnung. Wir wollen anschließend im naheliegenden Revier, nämlich am Bahnhof, Buntmetall sammeln. Für diese Diebestour trägt jeder einen Rucksack mit den entsprechenden Zangen, dazu anderem Werkzeug, auf dem Rücken. Denn das Metall liegt nicht einfach so lose auf den Gleisen herum. Unser Tätigkeitsfeld liegt westlich des Güterbahnhofes. Dort stehen auf den Abstellgleisen nicht mehr funktionstüchtige Dampflokomotiven. Die entweder im Krieg einen Treffer abbekommen haben oder sonst irgendwie außer Gefecht gesetzt wurden. Mit Sicherheit ist das nicht ganz ungefährlich, seitdem die Amerikaner für ein Stück von Berlin wieder abgezogen sind. Jetzt, da Russen die Straßen unsicher machen, wird derartiger Diebstahl als Sabotage bestraft. Das bedeutet fünfzehn Jahre Zwangsarbeit in Sibirien, darauf hat keiner von uns Lust. Auch wenn denen nachgesagt wird, sie wären kinderlieb, wollen wir es nicht darauf ankommen lassen, dies auszuprobieren, bei diesen asiatischen Typen mit Schlitzaugen und hervorstehenden Wangenknochen. Wenn die mit ihren komischen Pferdewagen durch die Straßen fahren, haben die uns noch nicht ein einziges Stück Brot zugeworfen. Da konnte man sich auf die Amis eher verlassen, Kinder bekamen manchmal sogar einen Kaugummi. Es geht am Güterschuppen vorbei, dann