Arinya
Der Straßenlärm kommt mir ungewöhnlich laut vor, als ich am Vormittag aus der Bahn steige. Das kommt wohl davon, wenn man sich die meiste Zeit im Wald aufhält. Schon immer war ich ein absolutes Naturkind. Die Verbundenheit zu Mutter Erde habe ich wohl von meinem Vater, einem waschechten Aborigine. Meine Eltern lernten sich bei einer Expedition kennen. Mom kommt ursprünglich aus London, ist aber in den Neunzigern nach Australien ausgewandert. Nach ihrer Studienzeit hat sie sich mit der Evolutionsbiologie Australiens beschäftigt und hat sogar eine Doktorarbeit darüber geschrieben. Für ihre Abschlussarbeit hat sie ein kleines Aboriginedorf besucht, wo sie schließlich meinen Vater kennengelernt und sich rettungslos in ihn verliebt hat.
Ich bin immer noch Feuer und Flamme für die Liebesgeschichte der beiden. Auch, wenn sie ein trauriges Ende hat. Denn eines Tages ist Dad verschwunden. Ohne ein Wort zu mir oder meiner Mom.
Seitdem ich mit meiner Kolonne durch die Wälder Australiens streife, scheint mein verborgenes Aborigine-Ich immer mehr zum Vorschein zu kommen und ich bin mir ganz sicher, dass ich irgendwann meinen Vater finden werde.
Verträumt flaniere ich an einigen Geschäften vorbei und stelle mir die Umgebung untermalt mit Vogelgezwitscher und Grillenzirpen vor.Schon viel besser. Die Flinders Street in Melbourne ist ziemlich belaufen. Von allen Seiten kommen Menschen zusammen, um sich dicht gedrängt und in hektischem Tempo über den Gehweg zu quetschen. Bin ich die Einzige hier, die keinen Zeitdruck hat?
Kurz schweifen meine Gedanken zu Sam, für den ich vorhin auf der Polizeiwache eine Aussage machen musste. Er ist in einer dreitägigen Sicherheitsverwahrung, weil er sich bei einer Demo an die Bahngleise gekettet hat, der Trottel. Ich habe ihm gleich gesagt, er soll es bleiben lassen, aber auf mich hört ja wieder keiner. Die Leute aus der Kolonne, die ich mittlerweile Freunde und Familie nenne, sind manchmal ziemlich dickköpfig, haben aber das Herz am rechten Fleck.
Eine der vielen Boutiquen zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Im Schaufenster ist ein Boho-Kleid ausgestellt. Ein Korallenrot mit Weinrot und Blumenmuster gemixt. Vor dem Kleid stoppen meine Beine und wie von Geisterhand wandern meine Hände zu den Gurten meines kleinen, beigen Häkelrucksacks. „Nein, Ari. Das kannst du dir ohnehin nicht leisten“, erinnert mich meine innere Stimme, auf die ich öfter hören sollte, als mir lieb ist und ein Blick auf das Preisschild lässt meine Hand erstarren. „Okay, okay“, murmele ich zu mir selbst und sehe ein, dass dieses Kleid unerschwinglich für meinen aktuellen Kontostand ist. Aber mit einem Kaffee könnte ich mich darüber hinwegtrösten. Mit diesem Kompromiss kann ich erst einmal leben. Aber ich bin festentschlossen, für dieses Kleid zu sparen. Mein Blick wandert von dem viel zu teuren Kleid zu der zierlichen Frau mit den mittelblonden, langen Haaren in der Spiegelung des Glases. Das beigefarbene Häkeltop zu dem langen, orange-roten Floral-Rock sieht doch auch ganz gut aus. Ich lächele meinem Spiegelbild zu und fahre mir mit den Fingern durch mein brustlanges Haar mit den hellblonden Spitzen. Weiter geht’s.
Das Starbucks ist mein Ziel, denn wenigstens den Kaffee möchte ich mir gönnen. Völlig in Gedanken versunken, setze ich meinen Weg fort, bin abgelenkt von dem Lärm der Stadt und den wunderschönen Farben des Schaufensterkleides. Unvorhergesehen gerate ich ins Stolpern. Verwundert blicke ich auf meine Füße und stelle fest, dass sich einer meiner Schuhe in einem Abflussgitter verhakt hat. Ich rudere mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten und zucke zusammen, als mich etwas am Arm packt und zurückzieht.
„Vorsicht, junge Lady“, höre ich neben mir eine dunkle Männerstimme, die zu der Hand gehören muss, die meinen Arm stützt.
Der Fremde geht in die Knie und ein Paar großer Hände befreit meinen Schuh aus dem Kanalgitter. Der Mann trägt eine Bluejeans und eine ziemlich schicke Uhr am Handgelenk.
„Das Ding hätten die ruhig mit engeren Gittern ausstatten können“, stellt der Fremde zu meiner Verteidigung fest und löst meinen Fuß, samt Schuh. Statt ihn sofort freizugeben, hält er ihn noch