: Harlan Coben
: Kein Lebenszeichen Roman
: Goldmann
: 9783641084370
: 1
: CHF 8.00
:
: Spannung
: German
: 448
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Als Junge gab es für Will Klein nur einen Helden: seinen älteren Bruder Ken. Als Ken verdächtigt wird, eine junge Frau vergewaltigt und ermordet zu haben, bricht für Will eine Welt zusammen. Ken flieht, taucht unter und wird schließlich für tot erklärt. Doch dann erfährt Will, dass Ken noch lebt. Gleichzeitig verschwindet Sheila, Wills Freundin, spurlos. Die Vergangenheit scheint sich auf alptraumhafte Weise zu wiederholen, und Will muss seinen Bruder um jeden Preis finden, da nur dieser die Wahrheit kennt ...

Harlan Coben wurde 1962 in New Jersey geboren. Nachdem er zunächst Politikwissenschaft studiert hatte, arbeitete er später in der Tourismusbranche, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine Thriller wurden bisher in 45 Sprachen übersetzt, erobern regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten und wurden zu großen Teilen verfilmt. Harlan Coben, der als erster Autor mit den drei bedeutendsten amerikanischen Krimipreisen ausgezeichnet wurde - dem Edgar Award, dem Shamus Award und dem Anthony Award -, gilt als einer der wichtigsten und erfolgreichsten Thrillerautoren seiner Generation. Er lebt mit seiner Familie in New Jersey.

1


Drei Tage vor ihrem Tod sagte meine Mutter mir – es waren fast, wenn auch nicht ganz, ihre letzten Worte –, dass mein Bruder noch lebte.

Das war alles. Sie erläuterte es nicht weiter. Sie sagte es auch nur ein einziges Mal. Es ging ihr ziemlich schlecht. Das Morphium hatte sie bereits fest im Griff. Ihre Hautfarbe lag irgendwo zwischen Gelbsucht und verblichener Sommerbräune. Ihre Augen waren tief eingesunken. Meist schlief sie. Danach hatte sie nur noch einen einzigen lichten Moment – falls der, in dem sie mir das erzählt hatte, ein solcher gewesen war, was ich stark bezweifelte – und den nutzte ich dazu, ihr zu sagen, dass sie eine wunderbare Mutter gewesen sei und dass ich sie sehr liebte. Dann verabschiedete ich mich von ihr. Wir sprachen nicht mehr über meinen Bruder. Das hieß nicht, dass wir nicht an ihn dachten, als säße auch er an ihrem Bett.

»Er lebt.«

Das waren ihre Worte. Und wenn sie der Wahrheit entsprachen, wusste ich nicht, ob das gut oder schlecht war.

Vier Tage später trugen wir meine Mutter zu Grabe.

Als wir hinterher zur siebentägigen jüdischen Totenwache ins Haus zurückkehrten, rannte mein Vater zornig über den Teppichboden im Wohnzimmer. Sein Gesicht war rot vor Wut. Ich war natürlich da. Meine Schwester Melissa war mit ihrem Mann Ralph aus Seattle gekommen. Tante Selma und Onkel Murray gingen im Zimmer auf und ab. Sheila, meine Lebensgefährtin, hielt meine Hand.

Das waren dann auch schon alle.

Nur ein einziges Blumengebinde stand da, ein prachtvolles Monstrum. Sheila lächelte und drückte meine Hand, als sie die Karte sah. Darauf waren keine Worte, keine Botschaft, nur eine Zeichnung:

Dad sah immer wieder aus dem Erkerfenster – das in den letzten elf Jahren zweimal mit einer Schrotflinte zerschossen worden war – und murmelte leise: »Schweinehunde.« Hin und wieder drehte er sich um, wenn ihm noch jemand einfiel, der nicht gekommen war. »Herrgott noch mal, die Bergmans hätten ja wenigstens mal kurz reinschauen können.« Dann schloss er die Augen und sah zur Seite. Wieder packte ihn die Wut und vermischte sich mit der Trauer zu einer Überspanntheit, der ich mich nicht gewachsen sah.

Ein neuer Verrat, einer von vielen in den letzten zehn Jahren.

Ich brauchte frische Luft.

Ich stand auf. Sheila sah mich besorgt an. »Ich geh spazieren«, sagte ich leise.

»Soll ich mitkommen?«

»Lieber nicht.«

Sheila nickte. Wir waren seit fast einem Jahr zusammen. Ich hatte noch nie eine Freundin gehabt, die mit meinen manchmal ziemlich unvermittelten Stimmungsschwankungen so gut zurechtkam. Sie drückte meine Hand noch einmal, um mir zu sagen, dass sie mich liebte, und mir wurde etwas wärmer ums Herz.

Die Fußmatte vor unserer Haustür war aus hartem Kunstrasen, mit einem Plastik-Gänseblümchen in der oberen linken Ecke, und sah aus, als hätten wir sie von einem Golfplatz mitgehen lassen. Ich trat darüber und schlenderte den Downing Place hinunter. Die Straße war gesäumt von unsäglich langweiligen Split-Level-Einfamilienhäusern mit Aluminiumfassaden aus den frühen Sechzigern. Ich trug noch immer den dunkelgrauen Anzug. Er juckte bei der Hitze. Unbarmherzig brannte die Sonne vom Himmel, und in einem Anflug von Nekrophilie dachte ich, dass heute ein perfekter Tag zum Verrotten wäre. Das Lächeln meiner Mutter, das – bevor das alles geschehen war – die ganze Welt hatte erstrahlen lassen, erschien vor meinen Augen. Ich verdrängte es.