Kapitel Eins
Diese Stimmung macht sich ja überall bemerkbar, politisch, sozial und philosophisch. Wir leben im Kairos für den »Gestaltwandel der Götter«, das heißt der grundlegenden Prinzipien und Symbole.
C. G. Jung, Gegenwart und Zukunft (1957)
Unwiederbringlich ist der größte Teil der Menschheitsgeschichte für uns verloren.Homo sapiens, unsere Spezies, existiert seit mindestens 200 000 Jahren. Für diesen Zeitraum haben wir jedoch größtenteils keine Ahnung, was mit demHomo sapiens passierte: In der Höhle von Altamira in Nordspanien wurden beispielsweise in einem Zeitraum von mindestens 10 000 Jahren, von etwa 25 000 bis etwa 15 000 v. Chr., Gemälde und Gravuren geschaffen. Vermutlich sind in dieser Zeit eine Menge interessanter Dinge geschehen, wurde eine Vielzahl einzigartiger Objekte zum ersten Mal überhaupt erst geschaffen und hervorgebracht, aber wir haben keine Möglichkeit zu erfahren, um was für Ereignisse es sich bei den meisten von ihnen handelte.
Für sehr viele Menschen hat dies so gut wie keine Bedeutung. Sie denken ohnehin kaum über den Gesamtverlauf der Menschheitsgeschichte nach. Dazu haben sie auch kaum einen Grund. Wenn das Thema überhaupt aufkommt, dann hängt es meistens mit der Frage zusammen: Warum befindet sich die Welt offenbar in einem so miserablen Zustand und warum behandeln Menschen einander so oft schlecht? Das Thema hängt also zusammen mit der Frage nach den Ursachen für Krieg, Gier, Ausbeutung und der systematischen Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden anderer. Waren wir schon immer so? Oder ist an irgendeinem Punkt etwas schrecklich missraten?
Im Grunde genommen ist dies eine theologische Debatte, denn eigentlich geht es um die Frage: Ist der Mensch von Natur aus gut oder böse? So formuliert hat die Frage genau betrachtet jedoch kaum einen Sinn. »Gut« und »böse« sind rein menschliche Konzepte. Niemandem würde es einfallen, darüber zu streiten, ob ein Fisch oder ein Baum gut oder böse ist, denn »gut« und »böse« sind Begriffe, die wir Menschen erfunden haben, um uns miteinander vergleichen zu können. Ein Streit, ob die Menschen dem Wesen nach gut oder böse sind, hat deshalb etwa genauso viel Sinn, wie ein Disput darüber, ob sie im Grunde dick oder dünn sind.
Dennoch kommen Menschen, wenn sie über die Lehren aus der Vorgeschichte nachdenken, fast immer auf solche Fragen zurück. Mit der christlichen Antwort sind wir alle vertraut: Wir lebten einst in einem Zustand der Unschuld, sind jedoch durch die Ursünde verdorben. Wir wollten sein wie Gott und wurden dafür bestraft. Nun leben wir in einem gefallenen Zustand und hoffen auf Erlösung.
Die populäre Version dieser Geschichte ist heute vermutlich irgendeine aktualisierte Fassung von Jean-Jacques Rousseaus 1754 geschriebenerAbhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen