Main Data
Author: Maxim Biller
Title: Mama Odessa Roman
Publisher: Verlag Kiepenheuer& Witsch GmbH
ISBN/ISSN: 9783462311525
Edition: 1
Price: CHF 20.00
Publication date: 08/17/2023
Content
Category: Contemporary literature (from 1945)
Language: German
Technical Data
Pages: 240
Copy protection: Wasserzeichen
Devices: PC/MAC/eReader/Tablet
Formate: ePUB
Table of contents
Die Welt der russisch-jüdischen Familie aus Hamburg, um die es in Maxim Billers neuem Roman »Mama Odessa« geht, ist voller Geheimnisse, Verrat und Literatur. Wir lesen aber auch ein kluges, schönes und wahrhaftiges Buch über einen Sohn und eine Mutter, beide Schriftsteller, die sich lieben, wegen des Schreibens immer wieder verraten - und einander trotzdem nie verlieren. Mit beeindruckender Leichtigkeit spannt Maxim Biller einen Bogen vom Odessa des Zweiten Weltkriegs über die spätstalinistische Zeit bis in die Gegenwart. Alles hängt bei der Familie Grinbaum miteinander zusammen: das Nazi-Massaker an den Juden von Odessa 1941, dem der Großvater wie durch ein Wunder entkommt, ein KGB-Giftanschlag, der dem Vater des Erzählers gilt und die Ehefrau trifft, die zionistischen Träumereien des Vaters, der am Ende mit seiner Familie im Hamburger Grindelviertel strandet, wo nichts mehr an die jüdische Vergangenheit des Stadtteils erinnert - und wo er aufhört seine Frau zu lieben, um sie wegen einer Deutschen zu verlassen. Dennoch scheint ständig ein schönes, helles Licht durch die Zeilen dieses oft tieftraurigen, außergewöhnlichen Buchs. »Mama Odessa« ist ein literarisches Meisterstück von größter Präzision und poetischer Kraft, wie es auf Deutsch nur selten gelingt.

Maxim Biller, geboren 1960 in Prag, lebt seit 1970 in Deutschland. Von ihm sind bisher u.a. erschienen: der Roman »Die Tochter«, die Erzählbände »Sieben Versuche zu lieben«, »Land der Väter und Verräter« und »Bernsteintage«. Seinen Liebesroman »Esra« lobte die FAS als »kompromisslos modernes, in der Zeitgenossenschaft seiner Sprache radikales Buch«. Billers Bücher wurden in neunzehn Sprachen übersetzt. Bereits nach seinem Erstling »Wenn ich einmal reich und tot bin« (1990) wurde er von der Kritik mit Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen und Philip Roth verglichen. Zuletzt erschienen sein Memoir »Der gebrauchte Jude« (2009), die Novelle »Im Kopf von Bruno Schulz« (2013) sowie der Roman »Biografie« (2016), den die SZ sein »Opus Magnum« nannte. Sein Bestseller »Sechs Koffer« stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2018. Über den Roman »Der falsche Gruß« (2021) schrieb die NZZ: »Das ist große Kunst.«
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Inhaltsverzeichnis

13.


Gleich wegen der ersten Demonstration, die Lassik organisierte, verlor mein Vater seinen oberen linken Schneidezahn. Er bekam nach einem halben Jahr in der staatlichen Stomatologischen Klinik von Odessa einen neuen, der aus strahlendem sowjetischen Gold war, aber später, in Hamburg, ließ er sich von dem ersten Geld, das er bei Brinkmann in der Spitalerstraße verdiente, lieber einen unauffälligen Keramikzahn einsetzen. Lassik, Papa und die andern – alle sehr jung, nur Männer und für damalige Zeiten extrem bärtig – hatten sich irgendwann Ende Oktober 1965 vor einen kleinen grauen Gedenkstein an der südlichen Peripherie von Odessa gesetzt, auf dem stand, dass an dieser Stelle »25000 Sowjetbürger von den nazistischen Bestien« umgebracht wurden, und dabei hatten sie immer wieder laut gerufen: »Es waren keine Sowjetbürger, es waren Juden!« Sofort kamen die stummen Riesen von der Miliz angelaufen und ließen ihre langen schwarzen Schlagstöcke fliegen. Mein Vater war der Einzige, der es schaffte, mit blutüberströmtem Gesicht und darum kurz wie blind, wegzulaufen. Alle anderen bekamen zwischen zwei und fünf Jahren Lager, mein Vater ging aber weiter in die Universität, machte seine Prüfungen und gründete seine zionistische Diskussionsgruppe.

»Du hast es damals richtig gemacht«, sagte Lassik oft zu meinem Vater, wenn wir in den siebziger Jahren bei ihm im Abendrothsweg in der Küche saßen, »ich hätte auch weglaufen sollen.«

»Du hast es versucht«, sagte mein Vater, »aber du warst schon immer zu dick und zu langsam.«

Sie lachten beide, ich lachte natürlich auch, obwohl ich als Junge das Ganze noch nicht richtig verstand, nur meine Mutter saß stumm und ernst daneben, jedenfalls so lange, wie sie in den Abendrothsweg mitkam.

Einmal sagte sie aber doch etwas. Sie drehte sich zu meinem Vater, lächelte ihn so falsch an, wie man nicht einmal einen fremden Menschen anlächelt, und flüsterte: »Schade, dass sie dich damals nicht gekriegt haben, Gena. Dann wäre Mischa und mir sehr viel erspart geblieben, auch dieses verdammte Deutschland.«

Als ich das hörte, stand ich schnell auf und fragte, ob ich im Wohnzimmer Fernsehen schauen dürfte.

»Du kannst ruhig hier bleiben«, sagte meine Mutter, »jetzt wird es interessant, auch für dich.«

»Natürlich, guck so viel du möchtest«, sagte Lassik fast gleichzeitig. Wie immer lachte sein Mund, aber seine Augen tränten, als würde er gleich weinen oder als sei er ziemlich krank, das konnte man nie so genau unterscheiden.

Ich guckte fragend meinen Vater an, der damals noch seine dicke schwarze russische Hornbrille hatte und mit den dichten, langen Koteletten und wild zugewachsenen Geheimratsecken wie jeder zweite osteuropäische Emigrant aussah. Aber er schwieg.

»Hör dir nur ruhig alles an, Mischenka«, sagte meine Mutter wieder zu mir.

»Die Fernbedienung liegt im Regal bei den Karten«, sagte Lassik.

»Du bleibst hier«, sagte Mama jetzt strenger.

»Wer seine eigene Frau versteht, hat Pech in der Liebe«, zitierte Lassik offenbar einen von seinen tausend Aphorismen.

Mein Vater sagte noch immer nichts. Er faltete seine Serviette immer wieder zusammen und auseinander und wieder zusammen, aber als meine Mutter noch mal sagte, ich solle da bleiben und mir anhören, wie er ihr Leben mit seinem ewigen Zionisten-Unsinn zerstört hätte, nahm er sein Glas und schüttete ihr den Rest seines Wassers ins Gesicht. »Komm endlich zu dir«, sagte er, »und lass Mischa damit in Ruhe.« Sie wischte sich wortlos mit ihrer Serviette das Gesicht ab und ging ins Nebenzimmer – es war Lassiks Arbeitszimmer mit den deckenhohen Bücherregalen an allen Wänden, dem riesigen englischen Schreibtisch neben dem Fenster und einer kleinen Schlafcouch –, wo sie minutenlang leise weinte. Sie verstummte erst, nachdem Lassik zu ihr gegangen war, kurz darauf hörte ich sie sogar ein bisschen zu laut und verlegen lachen, und ich setzte mich wieder an den Küchentisch. Mein Vater schüttelte den Kopf, mehr nicht, er sagte kein Wort, und als er mich wie zufällig mit dem Blick streifte, kam er mir vor wie ein fremder Mann, der versucht, in der U-Bahn an einem vorbeizusch

 
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