Erstes Kapitel
Sam starrt zu der langsam heller werdenden Zimmerdecke hinauf und macht ihre Atemübung, wie es ihr die Ärztin geraten hat, während sie versucht, ihre Fünf-Uhr-morgens-Gedanken daran zu hindern, sich zu einer riesigen schwarzen Wolke über ihrem Kopf zusammenzuballen.
Einatmen sechs Sekunden, drei halten, ausatmen sieben Sekunden.
Ich bin gesund, betet sie stumm herunter. Meine Familie ist gesund. Der Hund pinkelt nicht mehr in den Hausflur. Es ist was zu essen im Kühlschrank, und ich habe einen Job.Noch, fügt sie mit leichtem Bedauern hinzu, denn bei dem Gedanken an ihren Job zieht sich ihr der Magen zusammen.
Ihre Eltern leben noch. Auch wenn es ihr zugegebenermaßen schwerfällt, das ins geistige Dankbarkeitstagebuch aufzunehmen. Verdammt. Ihre Mutter wird am Sonntag garantiert eine spitze Bemerkung darüber machen, dass sie Phils Mutter viel öfter besuchen. Und zwar irgendwann zwischen dem Sherry und dem viel zu mächtigen Nachtisch, das ist so sicher wie der Tod, Steuern und diese einzelnen Kinnhaare. Sam stellt sich vor, wie sie sich mit einem höflichen Lächeln verteidigt.Na ja, Mum, Nancy hat gerade nach fünfzig Jahren Ehe ihren Mann verloren. Sie ist im Moment eben ein bisschen einsam.
Aber ihr habt sie auch ständig besucht, als er noch gelebt hat, oder nicht?, hört sie ihre Mutter zurückgeben.
Ja, aber ihr Mann lag im Sterben. Phil wollte seinen Vater so oft wie möglich sehen. Wir haben dort schließlich keine Partys gefeiert.
An diesem Punkt wird Sam bewusst, dass sie sich in ihrem Kopfkino wieder einmal einen Streit mit ihrer Mutter liefert, und sie zieht sich daraus zurück, versucht, ihn gedanklich in eine Schachtel zu legen und sie mit einem Deckel zu verschließen. Das hat sie mal in einer Zeitschrift gelesen. Aber der Deckel will einfach nicht draufbleiben. Ihr fällt auf, dass sie sich zurzeit häufig in Gedanken herumstreitet: bei der Arbeit mit ihrem Chef Simon, mit ihrer Mutter, mit dieser Frau, die sich gestern an der Kasse vorgedrängelt hat. Keine dieser Auseinandersetzungen führt sie im echten Leben. Sie beißt einfach die Zähne zusammen. Und versucht zu atmen.
Einatmen sechs Sekunden, drei halten, ausatmen sieben Sekunden.
Ich lebe nicht in einem Kriegsgebiet, denkt sie. Wenn ich den Hahn aufdrehe, fließt sauberes Wasser, und die Regale in den Supermärkten sind voll. Keine Explosionen, keine Schießereien. Kein Hunger. Das ist schließlich schon mal was. Trotzdem steigen ihr die Tränen in die Augen, wenn sie an diese armen Kinder in den Kriegsgebieten denkt. Sie muss ständig weinen. Cat sagt ihr immer wieder, sie soll eine Hormonersatztherapie machen, aber sie hat immer noch ihre Tage und Hormonpickel (das ist so was von ungerecht), und davon abgesehen bekommt man sowieso keinen Termin beim Arzt. Als sie das letzte Mal angerufen hat, hätte sie zwei Monate warten müssen.Und wenn ich inzwischen an einer tödlichen Krankheit sterbe?, hatte sie gedacht. Und sich in Gedanken mit der Sprechstundenhilfe herumgestritten.
Im echten Leben hatte sie einfach gesagt: «Oh, das dauert mir ein bisschen zu lange. Ich komme bestimmt auch so klar. Aber danke trotzdem.»
Sie wirft einen Blick nach rechts. Phil schläft, das Gesicht sogar im Traum sorgenvoll verzogen. Sie will den Arm ausstrecken und ihm übers Haar streichen, aber seit einiger Zeit wacht er sofort auf, wenn sie das macht, wirkt erschrocken und unglücklich, als hätte sie etwas Grausames getan.
Stattdessen faltet sie die Hände vor der Brust und versucht, eine entspannte Haltung einzunehmen. Ruhen ist genauso gut wie Schlaf, hat ihr mal jemand gesagt. Denk einfach an nichts und entspann deinen Körper. Lass die ganze Spannung los, die du in den Gliedern hast, von den Zehen aufwärts. Spüre die Schwere deiner Füße. Lass dieses