2. Kapitel
Lächelnd sah Hanna den beiden Mädchen hinterher. Sie waren dermaßen in ihr Gespräch versunken, dass sie sie nicht bemerkt hatten. Doch Hanna nahm es ihnen nicht übel. Im Gegenteil, es freute sie sehr, dass Christina so schnell mit einer neuen Schülerin ins Gespräch gekommen war. Vielleicht würden sich die beiden ja sogar anfreunden. Kaum etwas wünschte sie Christina mehr, als dass sie Anschluss unter Gleichaltrigen finden würde, nachdem sie es hier die meiste Zeit mit viel älteren Leuten zu tun hatte.
Da noch etwas Zeit bis zum Gottesdienst war, ließ Hanna den Blick zum Haupttor schweifen, über dem ein Schild mit der Aufschrift »Krankenhaus Waldfriede« hing. Ein Windhauch streifte sie, und sie zog die Jacke über ihrem dunkelblauen Festtagskleid enger. Obwohl der Frühling mit großen Schritten nahte, spürte man immer noch die eisigen Finger des Winters. Es war schon seltsam, dass gerade diese Jahreszeit stets Erneuerung für das Waldfriede brachte.
Winter war es auch gewesen, als sie vor achtundzwanzig Jahren durch dieses Tor getreten war, als junge Schwester, die den Tod ihres Verlobten vergessen und neu anfangen wollte. Der Frost hatte ihnen zugesetzt und die Arbeit erschwert, und doch war aus dem heruntergekommenen Sanatorium ein stolzes Krankenhaus geworden.
Als Christina durch dieses Tor gebracht wurde, zusammen mit anderen Flüchtlingen, die einen endlosen Strom gebildet hatten, war es zwar schon Frühjahr gewesen, aber ein sehr kaltes Frühjahr nach einem langen, leidvollen Winter.
Gebeugt, krank, mit zerschlissenen und schmutzigen Kleidern, die Gesichter blass und mager, hatten sich diese Menschen Hilfe an diesem Ort erhofft. Bis auf ihre nackte Existenz hatten die meisten kaum etwas aus ihrem früheren Leben retten können. Ihre Häuser und ihre Heimat waren verloren, viele hatten auch ihre Gesundheit eingebüßt.
Auch ihnen hier war es nicht gut ergangen. Die Folgen der Kampfhandlungen und die daraus resultierende Hungersnot setzten ihnen zu. Viele Fenster des mehrteiligen Hauptgebäudes waren nur notdürftig abgedichtet. Der Brunnen vor der Liegehalle war ausgetrocknet, den größten Teil des Parks hatte man in ein Kartoffel- und Rübenfeld verwandelt. Der Rasen der übrig gebliebenen Parkfläche hatte sich an vielen Stellen noch immer nicht ganz vom Beschuss mit Brandbomben erholt. Der große Krater, der in der Nähe der Straße geklafft hatte, war ein Zeugnis davon, wie knapp das Haus und die anderen Gebäude auf dem Gelände der Zerstörung entgangen waren.
Überall hatte es an dem Nötigsten gefehlt. Lebensmittel gab es auf Zuteilung, hin und wieder ließen sie sich auf Schwarzmarkthändler ein, damit sie wenigstens ihre Patienten ausreichend versorgen konnten. Verbandmaterial war nach wie vor knapp, sodass sie sich irgendwie anders behelfen mussten. Medikamente bekamen sie immerhin, die U. S. Army griff ihnen unter die Arme. Feuerholz oder gar Briketts waren wiederum Mangelware.
Dennoch hatte das Krankenhaus Waldfriede in Zehlendorf all diesen Menschen so gut es ging Zuflucht geboten.
Und auf einmal waren die Bilder jenes Nachmittages wieder da, als Dr. Conradi sie in die Notaufnahme geholt hatte …
An diesem Nachmittag waren zahlreiche Kinder unter den Flüchtlingen gewesen. Einige waren allein, andere klammerten sich fest an ihre Mütter. Ihre Augen wirkten viel zu groß in den ausgemergelten Gesichtern. Viele schauten sie mit den wissenden Mienen wesentlich älterer Menschen an. Bei einigen erkannte man deutlich, dass sie zu klein für ihr Alter waren.
»Worum geht es denn?«, hatte sich Hanna an Dr. Conradi gewandt.
»Wir haben eine Patientin, die sich nicht von mir anfassen lassen will. Sie hat eine schon leicht brandige Verletzung am Bein, um die sich gekümmert werden muss. Ihre Anwesenheit könnte vielleicht helfen.«
Im Behandlungsraum hatte sie zunächst einen älteren Mann in einem viel zu großen, verschlissenen Wollmantel gesehen, der sich ihnen als Franz Kobler vorstellte.
Dann erblickte sie ein bleiches, sehr dünnes, etwa sechzehnjähriges Mädchen mit blonden, etwas verfilzt wirkenden Zöpfen, das mit