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Die silberglänzenden Kalksteinspitzen stachen wie Dolche in die klare Bergluft. Einige winzige Wolken scheuerten sich an ihnen und lösten sich in blauen Himmel auf. Die Augustsonne brannte unbarmherzig ins Tal. Doch oben auf einem der glitzernden Gipfel, in knapp zweitausend Meter Höhe, rupfte ein eisiger Wind an den ergrauten Haaren der kleinen, verstörten Schar von Bergwanderern, die mit gesenkten Köpfen am Boden hockten. Nur eine Gestalt saß hoch aufgerichtet auf einem Felsen. Der Mann trug eine graue Windjacke, sein Kopf war verhüllt von einer Skimütze mit Sehschlitzen und einer herausgeschnittenen Aussparung für den Mund. Er hatte gerade ein paar Worte in ein Megaphon gefaucht, die groben, militärisch kurzen Kommandos schienen noch in der Luft zu hängen. Die Wanderer waren starr vor Angst, niemand bewegte sich. Das weitläufige Gipfelplateau bot ihnen ausreichend Platz zum Sitzen, aber nur wenige Meter entfernt gähnte der Abgrund. Das machte die Situation noch bedrohlicher. Die Windböen ebbten langsam ab. Der Mann ließ das Megaphon sinken. Einige Mutige riskierten einen Blick. Unvermittelt riss sich der Megaphonmann die Sturmmaske vom Kopf. Viele der Wanderer schrien auf. Sie glaubten zu wissen, was es bedeutete, wenn ein Geiselnehmer sein Inkognito aufgab. Doch zu ihrer aller Überraschung erschien keine kantige Verbrechervisage, sondern ein längliches, glattes Gesicht mit einer sauber geschnittenen Pagenfrisur. Es war das Gesicht einer jungen Frau. Ihre Lippen waren grellrot geschminkt, die Frisur saß fest wie Stahlbeton, ihre Miene veränderte sich keinen Millimeter. Sie drehte die starre Fratze langsam herum und ließ ihren Cyberblick in kleinen ruckartigen Bewegungen über die Wanderer schweifen. Die mechanische Künstlichkeit, die maschinenhafte Präzision der Kopfdrehung verschlug allen den Atem. Mancher begriff erst nach und nach, dass die Gestalt eine Kapuzenmaske aus Kunststoff trug. Auf dem Schoß der schrecklichen Maskenfrau lag eine kompakte Maschinenpistole. Das schwarze, ölig glitzernde Auge der Laufmündung schien alle böse und unheilverkündend anzuglotzen.
Die Geisel, die der Frau am nächsten saß, trug eine verwitterte Joppe und eine abgetragene Kniebundhose. Aus dem braungebrannten Gesicht leuchteten helle, bewegliche Augen. Der graue Bart wirkte frisch gestutzt, der Mann war rundherum eine sympathische Erscheinung. Jetzt war er starr vor Entsetzen. Die anderen Teilnehmer der Wanderung befanden sich hinter ihm, fünf Meter vor ihm hatte sich die maskierte Gestalt auf den Felsen gesetzt. Der Bärtige war immer noch fassungslos, wie das hatte passieren können. Am Anfang hatte er den Tumult und das wilde Gekreische gar nicht so richtig ernst genommen. Doch jetzt saß da einer auf dem Stein und bedrohte sie mit einer echten Waffe. Wie um Gottes willen hatte das geschehen können? Der Bärtige versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Er war sich sicher: Die bewaffnete Gestalt dort auf dem Felsbrocken war ein Mann. Die Körperhaltung und auch der Gang deuteten darauf hin. Es war ein Mann, der eine Frauenmaske trug. Genauer gesagt, eine Lady-Gaga-Maske aus dem Faschingsbedarf, was der Gestalt noch einen Tick mehr absurde Gefährlichkeit gab. Denn die Waffe auf Lady Gagas Schoß war kein Karnevalsrequisit. Das konnte der Bärtige erkennen. Er war beim Bund gewesen. Er konnte die zweieinhalb Kilo schwere russische Bison PP-19 von einer wesentlich leichteren Nachbildung durchaus unterscheiden.
»Man kann es daran erkennen, wie die Waffe gehalten wird«, hatte ihnen ihr Ausbilder bei der Bundeswehr erklärt. Ein paar heftige Windstöße fegten über den Gipfel, der Kidnapper wartete sie regungslos ab und führte das Megaphon langsam zur Mundöffnung der Maske. Der Bärtige schloss die Augen und lauschte angestrengt, ob er die Stimme erkannte. Fehlanzeige. Man konnte die Stimme auf diese Weise nicht identifizieren. Panik stieg in ihm auf. Es war doch so ein lustiger Ausflug gewesen. Und dann hatte er solch eine grauenvolle Wendung genommen.
»Ich wei