: Titus Müller
: Tanz mit mir, Aurelia Erzählung
: Adeo
: 9783863348076
: 1
: CHF 8.00
:
: Historische Romane und Erzählungen
: German
: 176
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
London, 1647: Es ist die Blütezeit des strengen Puritanismus. Dessen Anführer Oliver Cromwell lässt sogar das Weihnachtsfest verbieten, mit der Begründung, es sei mit heidnischen Bräuchen vermischt und daher unbiblisch. Auch der junge John ist ein Puritaner. Sein Vater starb an Trunksucht, und von seinen Zieheltern hat er gelernt, dass ein gottgefälliges Leben aus Entsagung und Disziplin besteht. Er ist fest entschlossen, alles zu tun, um nicht das Schicksal seines Vaters zu teilen. Doch dann begegnet er der wunderschönen, lebenslustigen Aurelia Fox, und seine Welt gerät ins Wanken. Könnte Aurelia recht haben, und Gott ist auch in Schönheit, Freude und Musik zu finden? Und Aurelia versteht durch John, dass die fromme Ehrfurcht der Puritaner eine wichtige Facette Gottes lebendig werden lässt. So beginnen die beiden, das Beste aus beiden Welten zu vereinen. Doch ihrer jungen Liebe droht Gefahr: Aurelias Familie bereitet heimlich einen Weihnachtsgottesdienst vor, obwohl darauf laut Gesetz schwere Gefängnisstrafen drohen. Und dann bekommt Johns strenger Ziehvater Wind davon ...

Titus Müller studierte in Berlin Literatur, Mittelalterliche Geschichte, Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift 'Federwelt'. Seine Ratgeber und historischen Romane begeistern viele Leser. Titus Müller ist Mitglied des PEN-Club und wurde u.a. mit dem 'C. S. Lewis-Preis' und dem 'Sir Walter Scott-Preis' ausgezeichnet. Seine Bücher werden regelmäßig zu Bestsellern. 'Der Schneekristallforscher' z.B. hat sich über 10.000 mal verkauft.

John


Ich wappnete mich innerlich, bevor ich nach oben ging, um mir meinen Lohn abzuholen. Als mir Aurelia den Farthing gab, schaffte ich es sogar, Abneigung ihr gegenüber zu empfinden. Ich hielt mir den Wohlstand der Familie vor Augen, der sicher nicht rechtmäßig erworben war. Tausende litten Hunger in London. Die Folgen des Krieges waren überall zu spüren: Waisen und Halbwaisen standen bettelnd am Straßenrand und froren, junge Kerle wie ich heuerten aus Verzweiflung wegen ihres ständig knurrenden Magens auf Schiffen an, alte Mütterchen waren tagaus, tagein dem fauligen Rauch der Seifenmacher und Leimkocher ausgesetzt. Mancher Handwerksmeister musste, um seiner hungernden Familie etwas zu essen zu kaufen, Teile seines Werkzeugs ins Leihhaus bringen, in der Hoffnung, dass er es später wieder auslösen konnte, mit einem Zins von sechs Prozent und mehr.

Der Graveur und seine hübsche Tochter verschlossen die Augen davor, dass wir die drittgrößte Stadt der Welt hinter Paris und Konstantinopel waren, dreihunderttausend Menschen in einem dichten Häusermeer, und die Bewohner darin nicht länger satt kriegten. Eine neue gesetzliche Verordnung verlangte, dass man seinen Müll mittwochs und samstags in Körben vor die Tür stellte, damit die Armen ihn durchsuchen konnten. Ich selbst hatte in schwachen Stunden schon in den Abfällen anderer Leute gewühlt.

Mit Wut im Bauch verließ ich Aurelias Haus und kehrte nach Cornhill zurück, um mit meinen leeren Eimern anzustehen hinter einfachen Leuten und anderen Wasserverkäufern. Das Dach der öffentlichen Wasserpumpe war nicht bloß die Schutzhülle für die Steigrohre, es beschirmte einen regelrechten Versammlungsort.

Ich beschloss, meine übliche Runde zu ändern und als Nächstes zu Eleanor zu gehen, als Widerpart zu Aurelia. Zwei Kunden habe ich, denen erlasse ich das Geld. Eleanor ist uralt, sie könnte unmöglich selbst das Wasser in ihr Haus schleppen, und bezahlen kann sie mich auch nicht. Sie schafft mit Mühe und der Unterstützung der Nachbarn die Jahresmiete. Manchmal glaube ich, sie ernährt sich bloß von Luft und Erinnerungen. Ab und zu wird eine Schale Grütze dabei sein, aber ein Leben ist das nicht mehr.

Ganz in der Nähe lebt Joane Slowe. Sie hat vier kleine Kinder, und ihr Mann ist bei der Schlacht von Naseby umgekommen. Ich hab ihr selbst angeboten, ihr jeden zweiten Tag kostenfrei Wasser zu bringen. Selbst wenn sie mal ausruht, wenn ich gerade ankomme, ärgert mich das nicht. Ich weiß, dass sie vom Morgengrauen bis spät abends auf den Beinen ist, um über die Runden zu kommen.

Ich schleppte also meine Eimer an Frauen mit Milchkannen und an Messerschleifern vorüber. Ein Quacksalber rief: »Ich heile Pocken, Lethargie, Fleckfieber, Würmer, Zahnweh, Husten und Liebeskummer!« Ich machte einen Bogen um drei dampfende Pferdeäpfel, sah wieder hoch und blieb abrupt stehen. Ich hatte das Lachen meines Bruders gehört. Keine zwei Menschen auf der Welt lachen gleich. Ich musste nicht lange meinen Blick schweifen lassen, schon entdeckte ich ihn in der Menschenmenge.

Acht Jahre hatte ich Oliver nicht gesehen. Er war mit zwölf vom Waisenhaus »Christ’s Hospital« direkt auf ein Schiff gegangen, um als Schiffsjunge anzuheuern.

Er schielte ein wenig, so wie früher, und besaß immer noch einen fülligen, fast weibischen Mund. Sein Körper aber war der eines Mannes geworden. Die breiten Schultern beeindruckten mich.

Was suchte er in London? Als Jahr um Jahr kein Schiff ihn wiedergebracht hatte, war ich davon au