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Blaumachen
Als Shelby Meyers nach ihren Schlüsseln griff, sah sie den Brief auf dem Tischchen im Hausflur. Die violetten Buchstaben in der vertrauten, unregelmäßigen Handschrift starrten sie höhnisch an. Sie zögerte, dann nahm sie den weißen Umschlag mit der geknickten Marke vom Tisch. Nachdenklich mit den Fingerspitzen über die spitzen Kanten streichend, erwog sie, das Geschreibsel einfach in den Müll zu werfen.
Im Laufe der Zeit war der Briefwechsel mit ihrer Mutter zu einem erbarmungslosen Schlagabtausch geworden. Die Erfahrung hatte Shelby gelehrt, keine freundlichen Worte mehr quer durchs Land in irgendeine Stadt zu schicken, die ihre Mutter gerade zufällig ihre Heimat nannte. Denn zurück kamen unweigerlich Gedankenlosigkeiten. Die Bemerkungen ihrer Mutter waren zu heftig und zu gut gezielt, als dass Shelby sie hätte ohne Weiteres parieren können. Schon in jungen Jahren hatte sie zu akzeptieren gelernt, dass ihre Mutter eine Gegnerin war, die sie offensichtlich nicht liebte. Spiel, Satz und Sieg: Und wieder einmal hatte Jackie Meyers über ihr einziges Kind triumphiert.
»Bist du das, Shelby?« Mit der Stimme ihrer Großmutter drang ein Duft nach gebratenem Schinken in den Hausflur. Selbst an einem Samstagmorgen im August war sie vor Sonnenaufgang wach und kümmerte sich um ihren Haushalt.
»Bin hier, Gran.«
Obwohl Shelby wusste, dass der Brief ihr nur weitere Enttäuschungen bereiten würde, schob sie ihn in einem Anfall von Erwartung in ihren Rucksack. Vielleicht hatte ihre Mutter dieses Mal den Schläger beiseitegelegt und war bereit, ihrer Tochter am Netz friedlich die Hand zu schütteln. Vielleicht hatte sie dieses eine Mal liebevoll geschrieben.
»Für dich ist ein Brief gekommen. Von deiner Mutter.« Ginny Meyers kam Shelby entgegen, während sie sich die nassen Hände an ihrer verblichenen Paisley-Schürze abwischte. Ginny glaubte an harte Arbeit und Bescheidenheit, an Dankbarkeit und Ehrlichkeit. Sie war immer noch schlank und straff von Jahren harter Farmarbeit, aber ihre Wangen waren rundlich und rosig, ihr Gesicht von Freundlichkeit und Fürsorge erfüllt. Die Augen mit den schweren Lidern waren braun wie die Erde und voller Güte, dennoch blitzte aus ihnen mehr als nur ein Fünkchen Übermut.
»Yep, hab ihn schon gefunden«, sagte Shelby.
»Na gut.« Ginny schaute auf den leeren Tisch, wo sie Jackies Brief am Vorabend hingelegt hatte. »Sie meint es ja nicht böse.«
Shelby warf ihrer Großmutter einen Blick zu. Beide wussten es besser.
»Du weißt doch, wie viel sie immer zu tun hat. Ist doch nett, wenn sie sich trotzdem meldet.« Ginny nickte mit Nachdruck, als wollte sie unbedingt, dass Shelby ihr beipflichtete.
»Kann man so sagen.«
»Genau. Also … Sie wird es schon noch begreifen. Da bin ich sicher.« Sie seufzte schwer und ließ die Schultern fallen. Dann zog sie Shelby in ihre Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Alles bloß eine Frage der Zeit.«
Shelby schloss die Augen und entspannte sich in den liebevollen Armen der Großmutter. »Ich muss allmählich los.«
»Willst du denn gar nicht frühstücken?«
»Sorry, keine Zeit. Ich will die erste Fähre erwischen.«
»Ja, natürlich. Dann ab mit dir!« Ginny machte die Haustür auf und schob Shelby zärtlich aus dem Haus, das von Geburt an ihr Zuhause gewesen war. »Versprich mir, dass du an diesem Wochenende Spaß haben wirst!«
»Hab ich nicht immer Spaß?«, fragte Shelby über die Schulter.
»Soll i