: Botho Strauß
: Die Fabeln von der Begegnung
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446266360
: 1
: CHF 9.90
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 248
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Neue Geschichten von Botho Strauß, dem bedeutendsten Physiognomiker der Literatur in Deutschland. In seinen hellsichtigen Erzählungen, Wahrnehmungen und Überlegungen geht es immer um den einen, einzigen Augenblick, in dem sich das Leben ändert, die Liebe sich auflöst, die scheinbar stabilen Zusammenhänge verschwimmen. Unter dem Vergrößerungsglas seines tief eindringenden Blicks wird dieser Augenblick festgehalten. Das hat zumeist unheimliche Konsequenzen. Denn wenn es auch von außen so aussieht, als würden 'die Sinne sich wieder aufrichten wie Gras, das man eine Zeitlang niedergetrampelt hat', so bleiben doch winzige Narben zurück, die sich in der Zeit zu seelischen Katastrophen addieren.

Botho Strauß, 1944 in Naumburg/Saale geboren, lebt in der Uckermark. Bei Hanser veröffentlichte er neben einer vierbändigen Werkausgabe seiner Stücke zuletzt die Prosabände Mikado (2006), Die Unbeholfenen (Bewußtseinsnovelle, 2007), Vom Aufenthalt (2009), Sie/Er (Erzählungen, 2012), Der Aufstand gegen die sekundäre Welt (Aufsätze, 2012), Die Fabeln von der Begegnung (2013), Kongress (Die Kette der Demütigungen, 2013), Allein mit allen (Gedankenbuch, 2014), Herkunft (2014) und Oniritti Höhlenbilder (2016). Im Herbst 2019 erscheint von ihm zu oft umsonst gelächelt.

In diesem Fall hieß ich Toss    und war zunächst der Typ von Mann, der auf Empfängen an der Wand lehnt und von den meisten Frauen unwillkürlich als eine Art Ablage benutzt wird. Sie stecken ihm eine zusammengerollte Zeitung zwischen Arm und Brust, da sie das Blatt gerade bei einer Begrüßung behindert. Sie lassen ihn einen Kaffeebecher halten — immer nur vorübergehend! —, wenn sie sich bücken und an einer Schließe ihres Schuhs hantieren. Sie schieben ihm einen Bleistift hinters Ohr, mit dem sie gerade die Telefonnummer einer wichtigen neuen Bekanntschaft notierten. Ja, sie stecken ihm sogar ihre Zigarette — vorübergehend — in den Mund, wenn unversehens der Mann auftaucht, der sie nicht rauchen sehen soll. Aber sie legen ihm auch vertraulich ein Plaid über die Schulter, wenn ihnen im Saal zu heiß wird, und hoffen darauf, daß er’s ihnen nachträgt, ja, sie kosten schon vor die passenden Worte, mit denen sie sich später bei ihm bedanken und irgendwie erkenntlich zeigen werden.

So war mein Empfinden, solange ich als stille Ablage diente. Später, wenn ich mich dann im Kreis der Gäste bewegte, war ich oft bis zur Blödigkeit geniert.

Auf jeden ging ich zu mit zum Wangenkuß geschürzten Lippen, erzwang ihn auch dort, wo man mir nur eine leblose Rechte hinhielt. Mein Gott! Ich bin ein für allemal fertig mit dergleichen Geselligkeiten — man soll mich nicht länger mit Leuten quälen! Es geht doch nur schief, schon beim ersten Schritt auf sie zu vergreife ich mich in den Konventionen.

Herr Toss war also ein Gimpel der gewöhnlichsten Umgangsformen. Einer, der zu jedem Menschen schon bei der ersten Begrüßung sagte: »Ich habe mir immer gewünscht, näher mit Ihnen in Kontakt zu treten.« Dieser Satz wurde von einem prüfenden Blick begleitet und im Tonfall eines strengen Prinzipienmeisters vorgebracht. Den einen schien es, als wäre Herr Toss ein homme isolé und in seiner weltweiten Einsamkeit ein wenig affig geworden und hätte sonderbare Allüren angenommen. Bei manchen hingegen weckte er die Vorstellung, aus einem Jenseits voll schicklichen Benehmens herabgestürzt zu sein unter die ungeschliffenen Gesellschaftsmenschen von heute. Denn es schien unter ihnen ein galanter Tor zu wandeln, ein linkischer Gast, der die reicheren, jedoch beim Sturz zerbrochenen Manieren besaß.

Vielleicht befand er sich aber auch erst kurz vor dem eigentlichen und endgültigen Sturz. Jedenfalls geriet er, sobald sich ein Gegenüber fand, das ihm vielleicht nur eine belanglose Frage stellte, sogleich unter den Drang, seine ganze Seele zu enblößen. Es ging so weit, daß er sich in ungeheure (und das heißt: seinem wehrlosen Gegenüber nicht geheure) aufrichtige Bekenntnisse steigerte, sein Innerstes billig verschleuderte, wobei allerdings nicht selten das eine Bekenntnis Sturm lief gegen ein anderes, gerade zuvor von ihm abgelegtes.

Eigentlich dachten alle: der Mann ist gänzlich durch den Wind. Es muß ihm Schreckliches zugestoßen sein. Was in ihm vorging, drang ungebremst nach außen:

»Energetisch betrachtet, läßt sich Liebe als eine Angelegenheit von zwei Generatoren beschreiben. Man liebt eine Person und lädt sich aufgrund des körperlichen Reibungswiderstands mit einem Mehr, einem Überschuß an Begierde auf, der von denselben zweien gar nicht insgesamt verbraucht werden kann. Dies macht es fast unumgänglich, daß man sich so bald als möglich an eine dritte Person wendet, um das Zuviel bei ihr abzuführen. Mit anderen Worten: je heftiger sich zwei Liebende lieben, um so eher wird einer von ihnen, zunächst nur einer, zum Betrüger. Mit einem gewissen Recht ließe sich sogar behaupten, daß außer dem unmittelbaren Körperglück und der kurzen Selbstaufgabe darin beinah alles menschliche Liebesverhalten auf Täuschung und Scharlatanerie beruht. Man ist unweigerlich ein Scharlatan, ein Betrüger, wenn man anfängt zu lieben.«

So sprach er zu dem einen, der indes nicht länger festzuhalten war, weil er einen Bekannten entdeckt hatte. Mit einem Ruck, mit einer Art Hackenschlag drehte sich Toss zur Seite und wandte sich, ohne seine Ausführungen zu unterbrechen, einem murrenden Mädchen zu, das seit Stunden die Namensschilder für die Sitzordnung der festlichen Mittagstafel um und um stellte … weil N. F. niemals neben R. sitzen dürfe, erst recht nicht neben G. I. und schon gar nicht neben A. J., folglich könne auch der Fürst nicht —

»Man gibt den Tölpel auf jeder Ebene der Existenz und auf jeder Stufe der Intelligenz. Tu l’as voulu, Georges Dandin … Der Betrogene ist der Dumme — die Betrügerin in allem die Klügere (sofern sie keine plumpen Fehler bei der Geheimhaltung macht). Man gibt als Betrogener immer den Tölpel, egal ob als Ehrenmann mit gestriegelten Sitten oder ob als toleranter Verzeihling heutigen Schlags. Man nimmt sogar körperlich allmählich ein bäuerisches, tapsiges Gehabe an, nicht wahr? Man beachte die linkischen, mitunter schwerfälligen Bewegungen, die sich beim Betrogenen einstellen und sich immer stärker ausprägen. Schließlich nennt er sich selbst mit dem Namen Georges Dandin, erklärt den Leuten auf Geselligkeiten wie dieser hier, er entstamme einer alten Hugenotten-Familie, da in solcher Runde ohnehin niemand mehr das Stück von Molière kennt. Ach, überall flammt noch mal das alte Theater der Untreue auf, und ich höre die Hauptdarstellerin gleichzeitig denselben Text auf der Szene deklamieren, den sie mir eben noch hinter den Kulissen zart ins Ohr flüsterte: ›Jetzt kann ich’s dir sagen: Dein Mißtrauen ging nie fehl. Dein Mißtrauen war Scharfsinn!‹

Kurzum, es ist sehr einfach. Es handelt sich um einen jungen Mann aus Litauen, der in Deutschland studiert, und sie hat ihm — mit Hilfe ihrer guten Beziehung zu evangelischen Hilfswerken — ein weiteres Stipendium verschafft. Im übrigen saß sie selbst in der Auswahlkommission und prüfte ihren Liebsten. Ich könnte das alles zerstören. Es handelt sich wahrhaftig um einen Fall vonIntim-Begünstigung! Ich will zu ihr nicht mehr zurück. Gleichzeitig friere und zittere ich in eisiger Isolation. Ich verspüre das große Schütteln am Stamm. Doch keine Frucht fällt mehr vom Baum. Winterzeit. Mit anderen Worten: Wenn es nur noch mich gibt, sollte es mich nicht mehr geben … Angenommen, ich kehrte zurück zu dieser Falschspielerin … Warum ginge ich zu ihr? Was suchte ich dort? Man wird mich auslachen … Fragen des Fürsten Myschkin, während er die Treppe zu Nastassja Filippowna hinaufsteigt. Unser aller Fragen beim Treppenaufstieg zu jemandem, der uns anzieht, zu sich hinaufzieht, nichts sonst.«

Und endlich erwiderte das murrende Mädchen, ohne mit dem Versetzen der Namensschilder einzuhalten:

»Ich bin Tänzerin. Sprachlos tanze ich in der Höhle der Sprache.«

Mit diesem Visitenkartenspruch verschloß sie sich seiner Rede. So ist es nun. Ein homme isolé, der mit nichts und niemandem mehr in seiner Umgebung übereinstimmte. Der die Leute ansprach mit Gefühlen und in Worten aus Quellen, deren im niedrigen, verlandeten Mündungsdelta keiner mehr gedachte.

Er sah sich umringt von Menschen, die alle die falschen Begriffe benutzten. In ihrer verwunschenen Insgesamtheit, ihrer trancehaften Gemeinschafts-Befangenheit blieben die meisten zwar recht muntere, zielstrebige Geschöpfe. Doch über ihr Ziel täuschten sich alle. Gerade das festigte ihre Gemeinsamkeit.

Die Tänzerin machte ihn auf eine ehemalige Kollegin aufmerksam, die an der Seite eines gebrechlichen Manns erschienen war. Einzige Tochter, lebte sie so nacht- und nachwandelnd ihrer Mutter verbunden, daß sie sogar ein Verhältnis mit einem ihrer früheren Geliebten begann, obgleich er inzwischen ein Greis war. Der ahnte nichts vom wahren Trieb der jungen Frau, es beglückte ihn undurchschaut ihr Talent zur Nachahmung.

Herr Toss bat sie für einen Augenblick beiseite, nahm er doch an, daß eine Frau unter Zwang wie diese vermutterte Tochter ein besseres Ohr für die Geschichte eines Idioten der Liebe haben müsse, die er bei der Tänzerin nicht zu Ende bringen konnte.

»Die Geschichte des Gehörnten ist auch zu früheren Zeiten nur selten die eines lieblos gewordenen, nicht mehr genügenden Manns gewesen. Wir kennen in unzähligen Varianten die Darstellung seiner Gleichgültigkeit und seiner schalen Gewohnheiten. Bei hochauflösender Betrachtung erkennt man erst heute, daß im Porträt des Betrogenen das...