: Michael Köhlmeier
: Die Abenteuer des Joel Spazierer Roman
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446242869
: 2
: CHF 11.60
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 656
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Ich besaß nie den Ehrgeiz, ein guter Mensch zu werden.' Joel Spazierer, geboren 1949 in Budapest, wächst bei seinen Großeltern auf und ist vier Jahre alt, als sie von Stalins Schergen abgeholt werden. Fünf Tage und vier Nächte verbringt er allein in der Wohnung und lernt eine Welt ohne Menschen kennen. Es fehlt ihm an nichts, er ist zufrieden. Eher zufällig findet ihn seine Mutter, die noch Studentin ist. Joel Spazierer lernt nie, was gut und was böse ist. Sein Aussehen, sein Charme, seine Freundlichkeit öffnen ihm jedes Herz. Er lügt, stiehlt und mordet, ändert seinen Namen und seine Identität und betreibt seine kriminelle Karriere in vielen europäischen Ländern. Die Geschichte, die er uns ganz unschuldig erzählt, ist ein Schelmenroman über die Nachtseiten unserer Gesellschaft wie es noch keinen gab.

Michael Köhlmeier, 1949 in Hard am Bodensee geboren, lebt in Hohenems/Vorarlberg und Wien. Bei Hanser erschienen die Romane Abendland (2007), Madalyn (2010), Die Abenteuer des Joel Spazierer (2013) und Spielplatz der Helden (2014, Erstausgabe 1988), der Gedichtband Der Liebhaber bald nach dem Frühstück (Edition Lyrik Kabinett 2012) und zuletzt die Romane Zwei Herren am Strand (2014) und Das Mädchen mit dem Fingerhut (2016), Ein Vorbild für die Tiere (Gedichte, 2017) sowie Der Mann, der Verlorenes wiederfindet (Novelle, 2017). Michael Köhlmeier wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt 2017 mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung und dem Marie Luise Kaschnitz-Preis für sein Gesamtwerk.  

ZWEITES KAPITEL


1


 

Die Soldaten fuhren – uns zuliebe! – auf der Ringstraße einmal um die Innere Stadt herum und setzten uns schließlich, als wären wir ein Staatsbesuch, vor dem HotelImperial ab. Der Leutnant, dieser kurze, wuchtige Mann mit den weit auseinander stehenden Zähnen und dem Strahlenkranz von Lachfalten – ich könnte sein Gesicht heute noch auf Papier nachzeichnen – drückte jedem von uns zum Abschied die Hand, legte die zweite darüber und sagte, er wünsche sich, dass in diesem Hotel, das weltweit Adolf Hitlers Lieblingshotel gewesen sei, in realistischer Zukunft eine Suite für uns bereitstehe; und verriet uns, er selbst habe ungarische Vorfahren; die Österreicher seien im Grunde patente Menschen, sie würden nach einer Eingewöhnungszeit bestimmt sehr freundlich zu uns sein. – Falls nicht? Bei welcher Macht würden wir uns beschweren können? Seine Adresse gab er uns nicht. Wir haben auch nicht danach gefragt. Das aber sei ein Fehler gewesen, sagte meine Mutter, als die Militärkolonne davonfuhr.

Da entgegnete ihr Moma, feierlich wie bei einer Geburtstagsrede: »Wir brauchen ihn nicht. Wir haben unseren Herrn Dr. Martin.«

Die Stadt war mir vom ersten Spaziergang an vertraut; als hätten wir lediglich eine Runde um Budapest herum gedreht und wären auf der anderen Seite wieder eingezogen – nun minus Kommunismus. Wir schlenderten unter den Bäumen über die Ringstraße, unsere Bündel auf dem Rücken, die Rucksäcke und die Decken, die Koffer in der Hand, Papa zudem Opas Koffer, vorbei an der schwarzen Oper, vorbei am Goethedenkmal mit den Grünspantränen – wie mir das gefiel! Schmutzig waren wir, Opa und Papa unrasiert, Moma und Mama ungeschminkt; unsere Schuhe waren verdreckt, die Kleider voller Grasflecken und zerknittert von der vorangegangenen Nacht auf dem Feld, wo wir so formidabel geschlafen und in unseren Träumen weitergesungen hatten (ich habe Mama und Moma summen hören). Nicht einmal die Zähne hatten wir uns geputzt – wie denn, wo denn? Wir setzten Opa auf eine Bank in dem Park zwischen den spiegelverkehrten Zwillingen des Kunsthistorischen und Naturhistorischen Museums, gleich neben die Kaiserin Maria Theresia auf ihrem hohen Sockel aus grauem poliertem Stein. Mein Vater wollte ihm Gesellschaft leisten, während sich Moma gemeinsam mit mir und Mama um unsere Zukunft kümmerte – wenigstens um unsere nähere Zukunft; für die weitere, sagte sie, würden die Freiheit des Westens und das Schweizer Bankwesen Sorge tragen. Opa und Papa unterhielten sich gern über medizinische Dinge, das heißt, der eine dozierte, der andere hörte zu; aber weil Papa dabei so aufmerksam zuhörte, sagte mein Großvater hinterher immer, sie hätten sich prächtig unterhalten, obwohl mein Vater wahrscheinlich nicht ein Wort beigetragen hatte. Moma gab ihm ein Büschel von den Forint, die sie über ihrem Magen trug; er solle versuchen, sie bei einer Bank in Schilling umzutauschen (der Wechselkurs für den Forint sei »zum Sich-am-Fensterkreuz-Aufhängen« – wörtlich Moma), und Coca-Cola und Wurstsemmeln davon kaufen, so viel wie möglich.

Wir anderen ließen unser Gepäck zurück und gingen weiter – vorbei am Justizpalast, am Parlament, am Rathaus, das mir wie ein riesiger Vogel mit spitzem Kopf und ausgebreiteten Flügeln vorkam, vorbei an der Universität und der Votivkirche (Moma kannte sich prima aus!), hinein in den 9. Bezirk zur Frankgasse Nummer 1, nämlich zum Ägyptologischen Institut, wo sich Moma bei der Sekretärin erkundigte, ob Herr Dr. Hans Martin im Haus sei, und wenn nicht, wie man ihn erreichen könne.

Nachdem uns die Sekretärin allein gelassen hatte, fragte meine Mutter, warum sich Moma nicht vorgestellt habe; sie habe geglaubt, Frau Professor Dr. Helena Fülöp-Ortmann sei eine Berühmtheit in ihrem Fach; wo sonst, wenn nicht hier, könne aus dieser Art von Berühmtheit Kapital geschlagen werden … – Wir waren erschöpft und von der Junisonne überhitzt und