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Als Mariana am nächsten Morgen das Haus verließ, meinte sie, Henry zu sehen, der sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinter einem Baum herumdrückte.
Doch als sie genauer hinschaute, war weit und breit niemand da. Sie musste sich das eingebildet haben, beschloss sie – und selbst wenn nicht, hatte sie im Augenblick wichtigere Dinge im Kopf. Sie verdrängte Henry aus ihren Gedanken und nahm die U-Bahn nach King’s Cross.
Am Bahnhof stieg sie in den Schnellzug nach Cambridge. Es war ein sonniger Tag, der Himmel perfekt blau, durchzogen von ein paar weißen Wolkenstreifen. Sie saß am Fenster und blickte hinaus, während der Zug an grünen Hecken und weiten Flächen mit goldenem Weizen vorbeifuhr, der in der Brise wogte wie ein gelbes Meer.
Mariana war dankbar, dass sie die Sonne im Gesicht spürte – sie fröstelte, allerdings vor Unbehagen, nicht, weil ihr nicht warm genug war. Sie konnte nicht aufhören, sich Sorgen zu machen. Seit gestern Abend hatte sie nichts mehr von Zoe gehört. Mariana hatte ihr heute Morgen eine Textnachricht geschickt, aber bislang wartete sie noch auf eine Antwort.
Vielleicht entpuppte sich alles als falscher Alarm, vielleicht hatte Zoe sich geirrt?
Mariana hoffte es aufrichtig – und zwar nicht nur, weil sie Tara persönlich kannte: Sie hatte mal ein Wochenende bei ihnen in London verbracht, ein paar Monate vor Sebastians Tod. In erster Linie ging es Mariana allerdings völlig eigensüchtig um Zoes Wohlergehen.
Zoe hatte aus verschiedenen Gründen eine schwierige Jugend gehabt, doch sie hatte diese Phase hinter sich gelassen, sogar mehr als das: Sie war »auf triumphale Weise über sich selbst hinausgewachsen«, wie Sebastian es ausgedrückt hatte – was darin gipfelte, dass sie einen Studienplatz in Englischer Literaturgeschichte an der Cambridge University ergattert hatte. Tara war die erste Freundin, die sie dort fand, und Tara zu verlieren, dachte Mariana, noch dazu unter derart grauenhaften Umständen, würde Zoe möglicherweise ganz den Boden unter den Füßen wegziehen.
Aus irgendeinem Grund konnte Mariana nicht aufhören, über das Telefonat nachzugrübeln. Etwas daran störte sie.
Sie konnte nur nicht genau sagen, was.
War es Zoes Ton gewesen? Mariana hatte das Gefühl, dass ihre Nichte mit etwas hinter dem Berg hielt. Hatte sie nicht ein leichtes Zögern bemerkt, war ihr Zoe nicht sogar ausgewichen, als Mariana sie gefragt hatte, welche »verrückten« Dinge Tara von sich gegeben hatte?
Ich kann jetzt nicht darüber reden.
Warum nicht?
Was genau hatte Tara denn gesagt?
Vielleicht steckt gar nichts dahinter, dachte Mariana.Hör auf – hör auf damit. Sie hatte noch fast eine Stunde Zugfahrt vor sich; sie durfte nicht hier sitzen und sich selbst in den Wahnsinn treiben. Sie wäre ein Nervenbündel, wenn sie endlich ankam. Sie musste sich unbedingt ablenken.
Mariana griff in ihre Tasche und zog eine Zeitschrift heraus:The British Journal of Psychiatry. Sie blätterte durch die Seiten, doch sie konnte sich auf keinen der Artikel konzentrieren. Unweigerlich schweiften ihre Gedanken immer wieder zu Sebastian. Die Vorstellung, ohne ihn nach Cambridge zurückzukehren, erfüllte Mariana mit Furcht. Seit seinem Tod war sie nicht mehr dort gewesen.
Sie waren oft dorthin gefahren, um sich mit Zoe zu treffen, und Mariana verband kostbare Erinnerungen mit diesen Besuchen: Sie dachte an den Tag zurück, an dem sie Zoe ans St. Christopher College begleitet und ihr geholfen hatten, ihre Sachen auszupacken und sich einzurichten. Es war einer der glücklichsten Tage gewesen, die sie je zusammen verbracht hatten. Sebastian und sie – stolze Eltern ihrer Ziehtochter, die sie so sehr liebten.
Zoe hatte klein und verletzlich gewirkt, als sie sich zum Aufbruch bereit machten, und als sie sich von ihr verabschiedeten, hatte Mariana bemerkt, wie liebevoll Sebastian Zoe betrachtete, voller aufgeregter Vorfreude, a