April 1960
Roderich Merten war ein mittelgroßer, mäßig beleibter Mann, der sich aber trotz seiner wohl fünfundfünfzig Jahre leicht und geschmeidig zu bewegen wusste. Er betrieb gemeinsam mit seiner Frau in einem alten Bürgerhaus, nahe dem Stadtwall, eine Tanzschule. Diese Institution, die einzige in der Stadt, hatte eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe: Die heranwachsende Generation der Sechzehn- bis Siebzehnjährigen, soweit sie der gehobenen Bürgerschicht angehörte, nicht nur mit den Standardtänzen vertraut zu machen, sondern die jungen Menschen an jene Umgangsformen heranzuführen, die damals noch mit dem Wort »Lebensart« bezeichnet wurden. Das Angebot zu einem solchen Kurs wurde von Roderich Merten alljährlich an die Leitungen der beiden höheren Lehranstalten, das Heinrich-Heine-Gymnasium und das Lyzeum, herangetragen.
Für die Gymnasiasten war das gesellschaftliche Ziel des Tanzkurses allerdings eher von nachrangiger Bedeutung. Für sie gab es nur einen Grund, sich zur Teilnahme zu melden: Hier bot sich die oft erste Gelegenheit, Kontakte zum anderen Geschlecht aufzunehmen. Denn es gab noch wenig Koedukation; das Gymnasium am Goetheplatz war eine reine Jungenschule, während das Lyzeum im Wallensteinweg den Mädchen vorbehalten war.
Natürlich hatten schon einige Schüler dieses Alters eine Freundin, was jedoch meist vor der Öffentlichkeit verborgen gehalten wurde und zudem von der Schulleitung nicht gern gesehen wurde.
Nachdem nun Roderich Merten in der ersten Stunde den je vierundzwanzig männlichen und weiblichen Eleven, die sich in dem karg möblierten, parkettierten Saal gegenübersaßen, Sinn und Historie der Standardtänze erläutert hatte, beendete er seine Ausführungen schließlich mit den Worten:
»Fordern Sie auf, meine Herren!«
Dirk Jakobs wohnte mit seinen Eltern im drittletzten Gebäude des ›Petersberger Weges‹, einem zweigeschossigen Haus mit vier Wohnungen, das im Eigentum der städtischen Wohnungsgenossenschaft stand. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag der Petersberg, e