1. KAPITEL
„Das kann doch wohl nicht so schwer sein …“, murmelte Mercedes Zamora durch zusammengebissene Zähne. Mit den Ellenbogen bahnte sie sich ihren Weg durch den riesigen Wacholderstrauch in ihrem Vorgarten, um die Sonntagszeitung einzusammeln, „… die Auffahrt zu treffen!“ Ein Zweig schlug ihr ins Gesicht und ließ sie zurückzucken. Als etwas Pelziges an ihren nackten Beinen vorbei zum Haus flitzte, schrie sie auf.
Der Kater setzte sich vor die Eingangstür und miaute zum Steinerweichen.
„Hey, es war allein deine Idee, letzte Nacht draußen zu bleiben“, sagte sie, als sie schließlich die Zeitung aus dem Busch angelte. Ihre langen Locken hatten sich inzwischen in den Zweigen verfangen. Fluchend packte sie die Haare und zerrten daran. „Ich fühle mit dir, aber ich … kann … gerade nicht.“
Stolpernd kam sie frei und plumpste auf den kalten Beton. Das tiefe, viel zu selbstbewusste Lachen eines Mannes auf der anderen Straßenseite brachte ihr Blut in Wallung. Vergessen waren die halberfrorenen Füße. Mercy wirbelte herum und zuckte zusammen.
Oh nein. Das durfte nicht wahr sein.
Zehn Jahre waren vergangen, seit sie Benicio Vargas zuletzt gesehen hatte. Ungeachtet ihrer vom hellen Licht schmerzenden Augen sah sie, dass diese zehn Jahre ihm gut bekommen waren. Dieselben breiten Schultern, dasselbe Grinsen, derselbe Übermut, und doch war er nicht mehr der fünfundzwanzigjährige Ben von damals.
Mercy war sich nicht sicher, ob sie genauer hinschauen wollte. In ihrem schäbigsten Morgenmantel und den zerzausten Haaren bot sie gewiss einen überwältigenden Anblick. Nicht, dass sie bereits zum alten Eisen gehörte. Ihre Haut war immer noch glatt, die braunen Haare schimmerten wie eh und je, und sie trug immer noch die gleiche Jeansgröße wie damals.
Ben schenkte ihr ein Lächeln, das die blinkende Weihnachtsdekoration am Haus ihres Vaters in den Schatten stellte. Ebenso wie den Christschmuck bei seinen Eltern direkt daneben.
Mercy war sich nicht sicher, was schlimmer war – dass sie früher einmal eine kurze, unvernünftige, aber sehr befriedigende Affäre mit dem Jungen von nebenan hatte oder dass sie, obwohl sie auf die vierzig zuging, immer noch in derselben Straße wohnte, in einem der Mietshäuser ihre Eltern. Aber warum sollte sie nicht in Sichtweite ihres heimatlichen Nestes bleiben, solange sie ihr eigenes Leben lebte?
Im Gegensatz zu dem Mr. World auf der anderen Straßenseite, der aus dem Nest geflüchtet und nie wieder zurückgekommen war.
Bis jetzt.
„Du siehst gut aus, Mercy“, rief Ben und zerrte einen Rucksack aus einem zum Campingbus ausgebauten Truck, sodass sie seine kräftigen Muskeln gebührend bewundern konnte.
„Danke“, erwiderte sie und presste die Zeitung an die Brust. „Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?“
Diplomatie war nicht gerade ihre Stärke.
„Hier und da“, sagte Ben und lächelte sie immer noch frech an. Hinter ihr steigerte der Kater sein Miauen zu einer ohrenbetäubenden Arie. „Ich glaube nicht, dass das der richtige Zeitpunkt ist, um mich dafür zu entschuldigen, dass ich einfach so verschwunden bin.“
„In der Tat!“, rief sie zurück, „zumal du gerade zugegeben hast, was die halbe Nachbarschaft ohnehin schon immer vermutet hat …“ Sie zuckte die Achseln. „Weiter so! Mach dich ruhig zum Idioten.“
Unerwartet wurde sein Gesicht ernst, und der unbekümmerte Ben, an den sie sich erinnerte, schien vollkommen verschwunden zu sein. An seine Stelle war ein Mann getreten, der heldenhaft all ihren Vorwürfen standhielt.
„Es tut mir leid, Mercy!“, sagte er, und der Winterwind trug die Worte zu ihr hinüber. „Ich meine es ernst.“
Er winkte ihr zu, drehte sich um und verschwand im Haus seiner Eltern. Zitternd ging sie zu ihrer eigenen Tür, ihr Kopf brummte, als hätte ihr jemand mit der Bratpfanne eins übergezogen. Warum war er zurückgekommen?
Aber eigentlich war ihr das egal.
Der Kater, den das noch weniger interessierte, flitzte ins Haus, bevor sie die Tür ganz geöffnet hatte. Das Telefon klingelte. Sie spähte hinaus und sah ihre Mutter am Küchenfenster stehen. Den Hörer ans Ohr gepresst, bedeutete sie Mercy, den Anruf anzunehmen.
„Ja, Ma“, sagte sie, kaum dass sie den Hörer abgenommen hatte. „Ich weiß, er ist wieder da. Ich mache ihm gerade eine Dose Katzenfutter auf.“
Mary Zamora seufzte. „Nicht deine dumme Katze, Mercy.Ben.“
„Ach so, Ben meinst du. Ja, ich habe ihn gerade gesehen. Hast du eine Ahnung, warum er hier ist?“
„Um seinem Vater zu helfen, was sonst? Sein Bruder hat sich doch nach Weihnachten den Fuß gebrochen“, fügte sie hinzu. „Ja, ich weiß, du magst Tony nicht besonders …“
„Ich habe doch gar nichts gesagt!“
„… aber da er mit deiner Schwester verheiratet ist, könntest du dich etwas mehr anstrengen, ihn zu mögen. Zumindest um Nitas willen. Aber egal“, fuhr Mary Zamora fort, „jetzt, wo Tony mindestens einen Monat lang nicht fah