Kapitel 1
Einen Mord zu begehen ist nicht weiter schwierig. Die wahre Kunst besteht darin, nicht erwischt zu werden. Und Victor praktizierte das eine wie das andere schon sein halbes Leben lang. Diese Tatsache wurde ihm in einem seltenen Moment der Selbstreflexion bewusst – und genauso schnell wieder verworfen. Den eigenen Gedanken nachzuhängen bedeutete, der Umgebung nicht die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Solange er sich mit der Vergangenheit beschäftigte, konnte er die Menschen in seiner Nähe nicht beobachten, konnte keine Schusswinkel und Sichtfelder abschätzen, sich nicht überlegen, wie er am wirkungsvollsten eventuelle Bedrohungen neutralisieren sollte oder welches die beste Möglichkeit für die anschließende Flucht wäre.
Um einen Mord zu begehen, braucht man kaum mehr zu können, als zu zielen und zu schießen. Das kann im Prinzip fast jeder. Aber um nicht erwischt zu werden, muss man es schaffen, von sich abzulenken und anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben. Victor war ein professioneller Killer, er tötete entweder für Geld oder um sich selbst zu schützen, wobei das Zweite immer in direktem Zusammenhang mit dem Ersten stand. Er tötete diejenigen, für deren Tötung er bezahlt wurde, und diejenigen, die er töten musste. Weil er aber zu seinen Opfern praktisch keine direkte Beziehung hatte, wurde er in der Regel nicht mit der Tat in Verbindung gebracht. Damit mussten seine Auftraggeber dann klarkommen. Sie waren schließlich diejenigen, die von Victors Talenten am meisten profitierten.
Während er sich in Gedanken noch mit der Frage nach Schuld und Schuldzuschreibung beschäftigte, musterte er die Männer und Frauen, die mit ihm zusammen im Waggon saßen. Es waren überwiegend Familien oder Paare, und die meisten Einzelreisenden waren entweder zu alt oder zu jung oder trugen die falsche Kleidung. Niemand löste auf seinem Gefahrenradar auch nur die kleinste Zuckung aus.
Es gab nur einen einzigen Mann in Victors Alter. Er saß Victor gegenüber und hielt sich an einem Becher mit kaltem Tee fest. Ohne sich besonders anstrengen zu müssen, sah Victor die braunen Ringe am Becherrand und die dünne Schaumschicht, die sich auf der Oberfläche des