: Gill Thompson
: Die Leuchtturm-Schwestern Roman
: Aufbau Verlag
: 9783841233110
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 512
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Zwei Schwestern in den Fängen des Schicksals.

Als Jersey im Sommer 1940 von den Deutschen besetzt wird, hat der Krieg das Leben der Schwestern Robinson bereits eingeholt. Nachdem Jenny ihren Traum von einem Studium in Cambridge auf Eis legen muss, schließt sie sich mit ihrem Freund Pip dem Widerstand auf der Insel an. Und auch Alice begibt sich in große Gefahr, als sie den jungen deutschen Arzt Stefan kennenlernt und sich immer mehr zu ihm hingezogen fühlt. Als das Schicksal sie entzweit, müssen beide Schwestern ungeahnte Opfer bringen, um zu überleben ... 

Die atemberaubende Geschichte zweier mutiger Schwestern - inspiriert von wahren Begebenheiten.



Gill Thompson studierte Kreatives Schreiben an der Chichester University. Beim Schreiben wird sie oft von wahren Begebenheiten inspiriert. Thompson lebt mit ihrer Familie in West Sussex und arbeitet dort als Englischdozentin. Im Aufbau Taschenbuch ist außerdem ihr Roman »Das Kind von Gleis 1« lieferbar.

Kapitel 1


Insel Jersey


Als Alice von ihrer Schicht nach Hause kam, waren alle hinten im Garten.

Auf ihrer Station im Krankenhaus war die Luft stickig gewesen, und bei dem vergeblichen Versuch, sie aufzufrischen, hatten die Ventilatoren sich mit lautem, enervierendem Klappern gedreht. Alice hatte sich auf die frische Brise draußen gefreut, doch dann war es dort noch wärmer und drückender als drinnen gewesen. Die Sonne brannte über der Stadt, und die schwüle Luft hüllte Alice wie eine Wolldecke ein.

Sie stieß das Gartentor auf und steuerte den getüpfelten Schatten unter dem alten Apfelbaum an.

Mum war dabei, von den Löwenmäulchen am Küchenfenster die welken Blüten abzuzupfen. Die übrig gebliebenen leuchteten hell im Sonnenschein. »Setz dich mit der Schwesterntracht nicht auf die Wiese, mein Schatz«, sagte sie. »Im Schuppen steht ein Liegestuhl.«

Alice stellte ihn unter dem Apfelbaum auf, ließ sich hineinsinken und zog ihre festgeschnürten Schuhe aus. »Oh, tut das gut.«

»Wie war dein Tag?«, fragte Mum. »Möchtest du einen Tee?« Sie legte ihren Korb und die Gartenschere ab.

»Zu warm – anstrengend – und ja, bitte Tee.«

»Kommt sofort.« Mum ging in die Küche.

Alice streifte ihre steifen Manschetten und die Haube ab und legte sie ins Gras. Sie lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen vor dem grellen Sonnenlicht. Von der Bank hinten an der Mauer kam Gemurmel. Jenny und Dad, die sich über ein Mathebuch gebeugt hatten. Sie waren so vertieft in ihre Diskussion, dass sie nicht einmal Alice’ Gruß erwidert hatten. William riss Händevoll Gras aus und führte die Halme durch das Gitter von Binkies Käfig. Alice sparte sich die Mühe, ihm Hallo zu sagen, er hätte ebenfalls nicht reagiert.

Eine gewichtige Männerstimme ertönte und kündigte Nachrichten an. Mum musste das Radio in der Küche angeschaltet haben. Alice hörte, dass Paris von den Deutschen bombardiert worden war. Fünfundvierzig Menschen waren bereits umgekommen. Es war beängstigend, wie zügig die Deutschen vorrückten. Von Dünkirchen aus waren sie nach Süden vorgedrungen, hatten die Somme schon überquert. Frankreich würde nun bald besiegt sein. Und dann? Was würden die militärischen Fortschritte der Deutschen für die Kanalinseln bedeuten? Von Frankreich nach Jersey war es nicht weit. Ein Schweißtropfen rann von ihrer Schläfe zum Kinn. Alice wischte ihn fort.

»Hier, mein Schatz.« Ihre Mutter stellte den Becher Tee mit so viel Elan neben Alice ab, dass er etwas überschwappte. »Ist alles in Ordnung? Du bist ein bisschen blass um die Nase.«

Alice griff nach dem Becher und nahm einen kleinen Schluck. »Es war eine lange Schicht. Und nun auch noch diese Nachricht über Paris.«

»Vielleicht hätte ich das Radio nicht anschalten sollen.«

»Doch. Nützt doch nichts, den Kopf in den Sand zu stecken, die Deutschen kommen trotzdem immer näher. Rebekah ist zutiefst beunruhigt. Außerdem sorgt sie sich um ihren Mann.« Alice war ihrer jüdischen Kollegin und Freundin auf der Station begegnet und musste an deren angespannte Miene denken. Sie hatte erst kurz vor Kriegsbeginn geheiratet; wenig später hatte ihr Mann sich verpflichtet und war in England stationiert worden. Seitdem hatte Rebekah ihn nicht mehr gesehen.

Mum strich ihre Schürze glatt. »Die arme Rebekah. Ich weiß, wie ich mich fühlen würde, wenn William in den Krieg gezogen wäre.«

Alice sah zu ihrem Bruder hinüber, der in seine eigene Welt versunken war. »Der Krieg wird hoffentlich vorbei sein, bevor er eingezogen werden kann.«

»Hoffentlich.« Mum wandte sich um. »James, Jenny … möchte jemand Tee?«

Jenny blickte von ihrem Mathebuch auf. »Nein danke.«

Dad antwortete nicht.

Mum verdrehte die Augen und kehrte in die Küche zurück.

Alice lehnte sich wieder zurück. Eigentlich müsste sie sich umziehen. Die weißen Manschetten hatten wahrscheinlich schon Grasflecke bekommen, und die schweißfeuchte Rückseite ihrer Tracht dürfte im Liegestuhl knitterig geworden sein. Sie würde sie waschen und bügeln müssen. Doch zuerst musste sie sich von ihrer Schicht erholen.

Diese Schwüle wollte einfach nicht weichen. Auf ihrem Arm hatten sich Gewittertierchen niedergelassen. Alice streifte sie ab. Vielleicht würde es ein Unwetter geben.

Mit einem Mal war in der Ferne ein Brummen zu hören. Es klang wie ein Schwarm aufgebrachter Fliegen. Alice setzte sich auf, beschirmte ihre Augen mit der Hand und blickte in die Richtung, aus der das sonderbare Geräusch kam. Und dann erschien am Himmel plötzlich eine Reihe schwarzer Punkte, die sich auf Fort Regent zubewegte, der Festung, die über Saint Helier aufragte.

»Dad?« Alice stand auf.

»Mmm?«

»Was ist das?« Wie schrill ihre Stimme war.

Jedes Geräusch schien plötzlich ein Eigenleben zu führen. Die mahlenden Zähne des Kaninchens. Klapperndes Geschirr. Knarrendes Holz, als Dad von der Bank aufstand. Der Lärm am Himmel.

Aus den Punkten wurden Flugzeuge. Sie flogen in Formation, wurden zu einem schwarzen Pfeil. Alice’ Brust schnürte sich zu, die schwere, warme Luft blieb in ihrer Kehle stecken.

»Dad!«

»Runter! Alle flach auf den Boden!«

Alice warf sich auf die Wiese, ihr Pulsschlag beschleunigte sich, und dann explodierte die Angst in ihrer Brust.

Wieder hörte man aus der Küche Geklapper.

Jenny schrie. Alice drehte sich nach ihr um. Ihre Schwester lag neben ihrem Vater, der den Arm in einer schützenden Geste über sie gelegt hatte.

William hockte noch immer vor dem Kaninchenkäfig und raunte Binkie etwas zu. »Runter, Will!«, rief sie.

Ihr Bruder erstarrte.

»Du musst dich hinlegen, William«, brüllte ihr Vater.

William rührte sich nicht.

Mum kam aus der Küche gerannt, stieß ihn zu Boden und hielt ihn mit einer Hand auf dem Rücken fest. Der Junge wimmerte.

Mit ohrenbetäubendem Lärm donnerten die Flugzeuge heran. Alice wagte nicht aufzusehen. Es hatte keine Warnung gegeben, keine Alarmsirenen. Sie hatten keine Zeit gehabt, dem Bombenangriff auszuweichen, vor dem sie sich seit Monaten gefürchtet hatten. Und nun waren die Deutschen überfallartig erschienen, und sie würden in ihrem Garten sterben. Alice wappnete sich gegen die Detonationen, den glühenden Schmerz, das rote Blut auf der Wiese …

»Es ist alles gut, das sind unsere Leute.« Eine vertraute Stimme, ganz aus der Nähe. Alice stand auf.

Durch das Dröhnen der Flugzeugmotoren hatte sie das Klicken des Gartentors nicht gehört. Pip Marett, ein ehemaliger Schüler ihres Vaters, kam über die Wiese – ein groß gewachsener, gut aussehender junger Mann.

Alice errötete.

Dad und Jenny rappelten sich hoch und klopften ihre Kleidung ab. Mum half William auf die Beine.

Die ersten Flugzeuge waren nun direkt über ihnen, die metallenen Unterseiten glänzten in der Sonne. Pip legte den Kopf in den Nacken und zählte leise mit. »Mein lieber Mann«, sagte er. »Achtzehn Whitleys.«

»Whitleys?« Ihr Vater trat zu ihnen und blickte in die Höhe. »Die sehe ich jetzt zum ersten Mal.«

Pip musste gegen den Lärm anschreien. »Man erkennt sie an der stumpfen Nase und der Kuppel, die wie das Dach eines Treibhauses aussieht.«

...