: James Baldwin
: Giovannis Zimmer Baldwins berühmtester Roman - neu übersetzt
: dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
: 9783423437202
: 2
: CHF 8.70
:
: Erzählende Literatur
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Keine Liebe ist jemals unschuldig Im Paris der 50er-Jahre lernt David, amerikanischer Expat, in einer Bar den reizend überheblichen, löwenhaften Giovanni kennen. Die beiden beginnen eine Affäre - und Verlangen und auch Scham brechen in David los wie ein Sturm. Dann kehrt plötzlich seine Verlobte zurück und David bringt nicht den Mut auf, sich zu outen. Im Glauben, sich selbst retten zu können, stürzt er Giovanni in ein Unglück, das tödlich endet.

James Baldwin, 1924 geboren, ist einer der bedeutendsten US-amerikanischen Schriftsteller. Sein bereits zu Lebzeiten vielfach ausgezeichnetes Werk umfasst Essays, Romane, Erzählungen, Gedichte und Theaterstücke. Er starb 1987 in Südfrankreich.

EINS


Ich stehe am Fenster dieses prächtigen Hauses in Südfrankreich, als die Nacht anbricht, die Nacht, die mich zum schrecklichsten Morgen meines Lebens führen wird. Ich habe ein Glas in der Hand, eine Flasche in Reichweite. Ich betrachte mein Spiegelbild im dämmrigen Glanz der Fensterscheibe. Es ist groß oder eher lang wie ein Pfeil, und meine blonden Haare glänzen. Ein Gesicht wie meins hat man schon oft gesehen. Meine Vorfahren haben einen Kontinent erobert, sind vorgerückt über todesschwere Ebenen, bis sie an einen Ozean kamen, der, von Europa abgewandt, einer dunkleren Vergangenheit gegenüberlag.

Morgen früh bin ich vielleicht betrunken, aber das wird nichts nützen. Den Zug nach Paris werde ich trotzdem nehmen. Der Zug wird derselbe sein, die Menschen, um Bequemlichkeit bemüht und sogar Würde auf den harten Holzbänken der dritten Klasse, werden dieselben sein, und ich werde derselbe sein. Wir werden durch dieselbe vielfältige Landschaft nach Norden rollen, weg von den Olivenbäumen, dem Meer und der ganzen Pracht des südlichen Sturmhimmels, hinein in den Nebel und Regen von Paris. Irgendjemand wird sein Sandwich mit mir teilen wollen, irgendjemand wird mir einen Schluck Wein anbieten, irgendjemand wird mich nach einem Streichholz fragen. Menschen werden in den Gängen auf und ab gehen, aus dem Fenster sehen, zu uns hereinsehen. An jedem Bahnhof werden Rekruten in ihren ausgebeulten braunen Uniformen und farbigen Mützen die Abteiltür aufschieben undcomplet? fragen. Wir werden alle nicken, wie Verschwörer, und uns leise anlächeln, wenn sie weitergehen. Zwei oder drei von ihnen werden vor unserem Abteil stehen bleiben, sich mit ihren derben Stimmen etwas zubrüllen und ihre scheußlichen Militärzigaretten rauchen. Mir gegenüber wird eine junge Frau sitzen, die sich fragt, wieso ich nicht mit ihr flirte, und beim Anblick der Rekruten nervös wird. Alles wird sein wie immer, nur ich bin dann stiller.

Auch die Landschaft ist still heute Abend, die Landschaft, in die mein Spiegelbild eindringt. Dieses Haus steht am Rande eines kleinen Badeorts – der noch leer ist, die Saison hat noch nicht begonnen. Es steht auf einer Anhöhe, man kann auf die Lichter der Stadt hinunterblicken und das Donnern des Meeres hören. Meine Freundin Hella und ich haben es vor ein paar Monaten von Paris aus gemietet, nachdem wir Fotos gesehen hatten. Seit einer Woche ist sie weg. Sie ist jetzt auf hoher See, auf dem Weg zurück nach Amerika.

Ich sehe sie vor mir, sehr elegant, straff und schillernd, von Licht umfangen im Salon des Ozeandampfers; sie trinkt ein bisschen zu hastig, lacht und beobachtet die Männer. So habe ich sie kennengelernt in einer Bar in Saint-Germain-des-Prés, trinkend und beobachtend, und das mochte ich an ihr, ich dachte, mit ihr könnte man sich gut amüsieren. So fing es an, mehr bedeutete es mir nicht; jetzt bin ich mir trotz allem nicht mehr sicher, ob es mir je mehr bedeutet hat. Ich glaube auch nicht, dass es ihr jemals mehr bedeutet hat&