1. Buch
Aufbruch
Kapitel 11903
Fräulein Doktor
Die Landschaft rauschte am Fenster des Waggons vorbei. Wenn sie den Blick starr geradeaus richtete, lösten sich die Konturen in verschwommene grüne und gelbe Streifen auf. Der Herbst begann, die Blätter zu verfärben. Sie wirbelten im Wind so durcheinander wie die Gedanken in ihrem Kopf.
Sie war unterwegs nach Berlin, zu ihrer ersten Stelle als Ärztin! Sie konnte es noch immer nicht recht glauben. So viele Jahre, und nun sollte der Traum tatsächlich Wirklichkeit werden.
Dr. Rahel Hirsch.
Ihr Großvater, der berühmte Rabbiner Samson Raphael Hirsch, der 1888 im selben Jahr wie die letzten beiden Kaiser gestorben war, wäre heute sehr stolz auf sie, das wusste sie genau. Gelehrsamkeit war für ihn immer eine hohe Tugend gewesen – für Männerund für Frauen.
Ein Jahr nach seinem Tod hatte Rahel in Wiesbaden ihr Lehrerinnenexamen abgelegt, um an der von ihrem Großvater in Frankfurt am Main gegründeten und inzwischen von ihrem Vater geleiteten Höheren Töchterschule der Israelitischen Religionsgemeinschaft zu unterrichten.
Auch ihr Vater, Mendel Hirsch, war inzwischen tot. Er hatte die ersten beiden Jahre ihres Medizinstudiums noch miterlebt und Rahel in ihren ungewöhnlichen Plänen bestärkt. Ohne seine Unterstützung hätte sie nicht in Zürich studieren können. Zürich – noch vor wenigen Jahren bot die dortige Universität die einzige Möglichkeit für eine Frau, Ärztin zu werden. Inzwischen hatte der Bundesrat beschlossen, auch in Deutschland Frauen zum medizinischen Staatsexamen zuzulassen, doch die einzelnen Länder ließen sich Zeit, die Vorgabe umzusetzen. Allen voran Berlin, das seine Universitätstüren für Frauen noch immer nicht geöffnet hatte. Baden sowie Elsass-Lothringen waren als Erste bereit gewesen, dem Beschluss zu folgen. Rahel hatte deshalb in Straßburg ihr Medizinstudium fortgesetzt und mit der Dissertation erfolgreich abgeschlossen.
Sie löste ihren Blick von der vorbeifliegenden Landschaft, öffnete ihre Tasche und zog ein in weinrotes Leder gebundenes Büchlein hervor. Die letzten Eintragungen hatte sie vergangene Nacht in ihrer spartanischen Unterkunft geschrieben, ehe sie ihre Reise hatte fortsetzen können.
Mein Herz rast. Ich kann es in meinen Ohren pochen hören. Ich versuche, mir die Vorgänge in meinem Körper bildlich vorzustellen. Mein Herz zieht sich hektisch zusammen und pumpt, schneller als sonst, das Blut durch meine Adern. Doch woher rührt das Rauschen im Kopf? Kann ich den Fluss meines Blutes durch mein Gehirn hören?
Meine Gedanken wandern zurück nach Zürich und nach Straßburg, zu meinen Professoren, die mich so viel gelehrt haben, und zu den Studenten, denen ich im Anatomiesaal, beim Präparierkurs oder im Vorlesungssaal bei Operationen begegnet bin …
Der Zug hielt an, die Abteiltür öffnete sich, und ein junges Mädchen von vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahren erkundigte sich,