Kapitel 1
Wohnung der Familie Krause in Meyers Hof
Mai 1914
Als Rieke aufwachte, dachte sie anfangs, das leise Schnarchen ihres Bruders Robert oder der Druck auf ihre Blase habe sie geweckt. Noch schlaftrunken warf sie einen Blick auf den kleinen Wecker neben dem Bett. Erst viertel nach fünf. Eine ganze Stunde zu früh zum Aufstehen.
Dann hörte sie wieder das Poltern, begleitet vom wütenden Knurren ihres Vaters und gefolgt von einem gedämpften Aufschrei ihrer Mutter. Die Geräusche mussten aus der Wohnküche kommen, die ihrer Schlafstube gegenüberlag, und waren wahrscheinlich der eigentliche Grund, dass sie vorzeitig aufgewacht war.
Vorsichtig, um ihre vier Jahre jüngere Schwester Sanni, mit der sie sich das Bett teilte, nicht zu wecken, schälte sich Rieke aus den Laken. Dann öffnete sie die Kammertür und lugte hinaus. Zu dieser frühen Tageszeit war noch kein anderer Bewohner ihrer Etage im dritten Stock des vierten Hinterhauses von Meyers Hof unterwegs. Denn der fensterlose Gang, der die Zweizimmerwohnung der Familie Krause wie alle anderen gleichartigen Wohnungen dieser Mietskaserne durchschnitt, war ein Gemeinschaftsflur.
Die Hand schon auf dem Knauf, verharrte Rieke einen Augenblick lang unschlüssig vor der Küchentür. Dann beschloss sie widerstrebend, zunächst den Gemeinschaftsabort aufzusuchen, der auf dem Treppenabsatz zwischen der dritten und vierten Etage lag. Er wurde von allen Bewohnern des dritten Stockwerks benutzt und war daher häufig ekelerregend schmutzig.
Auch jetzt erkannte Rieke im fahlen Morgenlicht, das durch das Fensterchen fiel, dass sich die letzten Benutzer nach ihrem Toilettengang nicht die Mühe gemacht hatten, das Klosett zu reinigen. Nicht einmal den Holzdeckel hatten sie geschlossen. Es stank zum Gotterbarmen in dem winzigen Kabuff.
Wenigstens war ausreichend Zeitungspapier vorhanden. Mit spitzen Fingern ergriff Rieke eines der Blätter und wischte damit über die Brille. Dann hockte sie sich darüber, ohne die Brille zu berühren, und erleichterte sich.
»Nu stell dir nich so an, Rieke«, hörte sie die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf. »Früher war’n die Klos im Hof. Sie wurden nur zweemal am Tag jespült, mit Wasser aus ’ner Dachzisterne. Wat meinste wohl, wie’s da erst ausjeseh’n und jerochen hat?«
Rieke, die die früheren Klosetts nicht kannte, weil deren Nachfolgemodelle 1897, im Jahr ihrer Geburt, in Meyers Hof installiert worden waren, war das herzlich egal. Sie verglich die Klos in der Mietskaserne mit den Personaltoiletten im KaDeWe, wo sie seit fast zwei Jahren als Kassenmädchen beschäftigt war. Schon zwischen den reinlichen weiß gekachelten Kabinen für die Angestellten und den stinkenden Löchern in Meyers