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Ende Mai 2016
Es wäre wohl für jeden ein seltsames, verstörendes Gefühl, in ein kleines Haus einzuziehen, in dem sechs Jahre zuvor drei Menschen ermordet worden sind. Hätte Ellen das doch nur früher gewusst …
Aber sie hat es gerade erst erfahren, rein zufällig, wenn man Dorfklatsch als Zufall bezeichnen will. Die Maklerin hat es ebenso wenig erwähnt wie der Notar, aus verständlichen Gründen, und selbst wenn, nach einem weiteren Blick auf ihr neues Zuhause ist sie sich ziemlich sicher, wie sie entschieden hätte. Es ist einfach zu schön. Ganz Heiligendamm ist einfach zu schön, um es sich von einer abstrakten Tragödie aus vergangenen Tagen kaputtmachen zu lassen.
Ellen stellt die beiden Einkaufstaschen ab, reibt sich die vom Tragen leicht geröteten Finger und blickt den breiten gepflasterten Weg hinauf, wo hinter zahlreichen Bäumen, Büschen und Sträuchern der Dachfirst zu erkennen ist. Obwohl … ist das überhaupt ihr Haus? Sie ist gerade erst eingezogen und findet sich noch nicht zurecht.
Die Anlage, die vier Häuser umfasst, liegt am Rand eines Buchenwaldes. Sonnenstrahlen dringen an diesem Frühlingsmorgen durch das junge Blattwerk und werfen Spots auf die lindgrünen Farne, das tiefe Violett der Rhododendren und das frische Gelb der Forsythien. Hunderte Iris, Tulpen und Narzissen säumen die verschlungenen Wege, zwischen den Gebäuden und zum Haupteingang. Das Gelände strahlt die Noblesse eines Kurparks aus, die jedoch durch den sie umgebenden Wald gemildert, sozusagen geerdet wird. Auch der schlechte Zustand der zu den Häusern gehörenden privaten Gärten konterkariert das gepflegte Erscheinungsbild der Anlage.
Obwohl, je länger sie verweilt und sich umsieht, desto mehr fallen ihr Anzeichen von Verfall auf, die ihr zwei Wochen zuvor beim Termin mit der Maklerin entgangen sind. Etwa ist die Siedlung von einer Mauer umgeben, die aussieht, wie von einer entstellenden Krankheit befallen. Wozu überhaupt eine Mauer, wenn der Haupteingang für Autos und Fußgänger frei passierbar ist? Gittertor und Schranke sind gewiss schon ewig nicht mehr geschlossen worden, sehr zur Freude alteingesessener Spinnenfamilien. Das Pförtnerhäuschen steht verlassen da, durch das verschmierte Fenster könnte man gefahrlos eine totale Sonnenfinsternis beobachten. Die drei Fahnenmasten daneben haben, wie zwangspensionierte Senioren, ihre Bestimmung verloren.
»Jetzt werd bloß nicht mäkelig«, raunt Ellen sich selbst zu und lässt den Blick in die andere Richtung schweifen, auf die Küste und das Meer. Wunderbar, wie sich dort, wo sie steht, alles versammelt, was Sinne erfassen können. Die Uferböschung ist nur zwei Steinwürfe entfernt, und vom Strand dringen gedämpft die Geräusche sanfter Wellen und spielender Kinder herauf, die sich mit dem Summen des Waldes vermengen. Das Meer ist wie blaues Perlglas. Alles strotzt von Leben und ist doch ganz ruhig, geradezu meditativ. Auf dem Weg die Uferböschung entlang ziehen, beinahe unwirklich, die schwarzen, stummen Silhouetten einiger Spaziergänger und Fahrradfahrer vorüber.
Wie um ein letztes gutes Argument vorzubringen, atmet sie das Gemisch aus aerosolhaltiger Brandung und moosigem Ho