1. KAPITEL
Sie befand sich in Lebensgefahr. Zwei Jahre in diesem zwielichtigen Viertel hatten Jessies Sinne geschärft. Ständig war sie auf der Hut. Nur deshalb waren ihr die Männer aufgefallen, die mehr tranken, als ihnen guttat. Joe gefiel das natürlich, denn wenn sie betrunken waren, merkten sie nicht, dass er ihnen zu viel berechnete.
Von der Bühne aus konnte sie genau sehen, wie viele Banknoten den Besitzer wechselten und wie viele Flaschen Whisky konsumiert wurden. Die Augen der Männer wurden immer glasiger, während sie ungerührt weitersang – mit dieser weichen, samtigen Stimme. Das ungute Gefühl im Magen ignorierte sie. Die Songs handelten von Liebe und Enttäuschung. Die meisten Gäste in Joes Bar waren einsame Männer, die mehr von Enttäuschung als von Liebe wussten. Genau wie sie selbst.
Natürlich war das hier nicht gerade ein Traumberuf, aber Jessie hatte schon mit fünf Jahren aufgehört zu träumen.
„He, Puppe!“ Ein dicht vor der Bühne sitzender Mann wedelte mit einem Geldschein. „Ich hätte gern eine Privatvorstellung. Komm runter und sing das Lied auf meinem Schoß!“
Jessica wich zurück, ohne aus dem Takt zu kommen, warf den Kopf zurück und brachte die letzte Strophe mit geschlossenen Augen hinter sich. Wenigstens konnte sie sich so einbilden, woanders zu sein. Statt vor diesen ungehobelten, vom Leben enttäuschten Männern, stand sie auf der Bühne eines ausverkauften Stadions. Die Zuschauer hatten eine Monatsmiete bezahlt, nur um ihre Stimme zu hören. In ihrer Fantasie litt sie auch nicht unter nagendem Hunger und trug keinen billigen Fummel, den sie schon wer weiß wie oft ausgebessert hatte. Und sie war nicht allein.
Da draußen wartete jemand auf sie.
Jemand, der sie nach ihrem Auftritt abholte und sie in ein warmes, gemütliches und sicheres Zuhause begleitete.
Das Lied war verklungen. Jessie schlug die Augen auf und sah, dass tatsächlich jemand auf sie wartete.
Eine Gruppe von Männern, die allerdings eher einem schrecklichen Albtraum entsprungen zu sein schienen und ganz gewiss keine Traummänner waren.
Ihr war sofort klar, dass die Typen es auf sie abgesehen hatten. Die Angst, die sie schon so lange begleitete, hatte ihr fast alle Kraft genommen.
Beim letzten Mal war sie mit Blutergüssen davongekommen. Erst nach einer Woche hatte sie wieder auftreten können. Doch dieses Mal würden die Männer es nicht bei einer Warnung belassen.
Ihr Mund wurde trocken, das Herz raste. Doch dann fiel Jessie ein, dass sie einen Plan hatte.
Und ein Messer im Strumpfhalter.
Er saß ganz hinten und genoss es, in der Dunkelheit unerkannt zu bleiben und nicht im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen. Am Abend zuvor war er mit einem Starlet am Arm über einen roten Teppich gewandelt. Durch seine Geschäfte hatte er es zum Milliardär gebracht, bevor er dreißig geworden war. Das privilegierte Leben der Superreichen gefiel ihm, doch er hatte dabei nie seine Wurzeln vergessen. In dieser zwielichtigen Gegend war er aufgewachsen – umgeben von Trunkenbolden, Gewalt und tödlicher Gefahr. Bis er es eines Tages nicht mehr ausgehalten und beschlossen hatte, diese Welt hinter sich zu lassen.
Jeder andere hätte so eine Vergangenheit wahrscheinlich unter den Tisch fallen lassen, doch dazu war Silvio zu geradlinig. Warum sollte er sich neu erfinden? Er fand es sehr amüsant, wie anziehend Frauen die Narben fanden, die an seine dunkle Vergangen