Double Helix
Einem Hungrigen ist alles Bittre süß.
Melinda M. Snodgrass
Ich lasse die Abschnitte über Asche und Würmer aus. Die Seiten sind dünn. Sie fühlen sich fast wie Federn an, wenn ich sie umblättere und nach Stellen suche, bei denen mir nicht die Galle hochkommt. Ich weiß, dass mein Vater stirbt. Ich muss nicht erst darüber lesen.
Hier ist eine Stelle. Sie klingt mehr nach Lord Dunsany als nach den Weisheiten längst verstorbener Hebräer. »Du baust deine Gemächer über den Wassern. Du fährst auf den Wolken wie auf einem Wagen und kommst daher auf den Fittichen des Windes.« Ich habe eine gute Stimme und verstehe sie zu gebrauchen. Jetzt setze ich sie ein, um die letzten Worte tiefer und weicher zu färben. Zwar ist mir bewusst, dass er schlafen sollte, aber ich will ihn nicht schlafen lassen. Ich will mit ihm reden. Seine Stimme hören, bevor sie für immer schweigt.
Dieser verdammte Kloß ist wieder da. Andauernd schlucke ich, damit er kleiner wird. Durch das Zwillingsfenster erkenne ich auf dem trägen Cam ein paar Sonnenstrahlen glitzern. Es ist August, und es kommt einem vor, als wolle dieser Sommer kein Ende nehmen. Im Zimmer ist es entsetzlich stickig, und die Luft ist schwer vom eklig süßen Geruch einer tödlichen Krankheit. Ich spüre, wie mir das Hemd am Rücken festklebt. Draußen knattert irgendwo ein Rasenmäher, und ein Hund kläfft verärgert. Wahrscheinlich werde ich den Rasen meiner Eltern selbst mähen müssen. Oder ich heure einen Teenager an. Durchs offene Fenster rieche ich das Gras. Die Zweige des Apfelbaums werden niedergedrückt von der rosafarbenen Last.Vielleicht geht es allen Lebewesen so, wenn sie sich vermehren.
Mein Vater berührt meinen Handrücken. Seine Haut fühlt sich an wie die hauchdünnen Seiten der Bibel, die jetzt in meinem Schoß liegt. »Danke …« Seine blauen Augen in dem Gesicht, das nur noch aus kantigen, von gespannter Haut überzogenen Knochen besteht, sind erstaunlich wach. »Da steht eine Menge Weisheit drin«, fügt er hinzu und legt seine Hand auf die Bibel. »Wenn du mir vorliest, findest du vielleicht etwas davon.«
Märchen und Fantastereien, denke ich, lasse mir jedoch nichts anmerken. »Dann hältst du mich also für einen Toren.« Ich grinse ihn an. »Danke.«
»Nein.« Er sieht mich ernst an. »Aber ich weiß, dass irgendwas nicht stimmt. Ich habe dich aufgezogen, Noel, vor mir kannst du das nicht verheimlichen.«
Er lächelt, aber wie bei jedem Kind, das mit der übernatürlichen Allwissenheit seiner Eltern konfrontiert wird, krampfen sich mir die Eingeweide zusammen. Genauso schnell vergeht es wieder. Schließlich bin ich achtundzwanzig, und für einen Augenblick bereitet es mir Vergnügen zu rätseln, was ich seiner Meinung nach getan habe. Ich habe keine Groupies geschwängert, denn als Hermaphrodit bin ich unfruchtbar. Schulden habe ich auch keine. Sowohl mein offizieller als auch mein geheimer Job bringen mir gutes Geld ein. Was glaubt er nur, was ich angestellt habe? Kurz spiele ich mit dem Gedanken, es ihm zu verraten.
Du weißt, Dad, dass ich Mitglied der Silver Helix bin, einer Abteilung desMI-7. Was du aber nicht weißt, ist, dass ich für sie töte. Ich könnte dir nicht mehr sagen, wie viele Leute ich umgelegt habe. Man behauptet immer, dass man sein erstes Opfer nie vergessen wird. Aber von dem habe ich genauso wenig ein Gesicht vor Augen wie von den anderen.