: Alissa Walser
: Immer ich Erzählung
: Piper Verlag
: 9783492952699
: 1
: CHF 7.20
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ob vier Menschen in Brooklyn versuchen, Weihnachten mit einem verstimmten Klavier zu feiern, oder eine Frau den begehrten Mann ins Pornokino schickt - Alissa Walser ist eine Meisterin der Kurzform, der Tiefenvirtuosität, die mit Raffinesse unsere normalerweise verschwiegenen »menschlichen Zwischenräume« ausleuchtet. Sie entwirft mit schlafwandlerisch sicheren Strichen emotionale Gefüge zwischen Frauen und Männern, Freunden und Freundinnen, Eltern und Kindern. Manchmal steckt schon in einem einzigen Satz ein scheinbar vertrauter Roman. Aus Leben entstehen Bilder, und umgekehrt werden die Bilder lebendig. Die Sicht der Autorin, ihre kluge Wahrnehmung, kristallisiert die Verhältnisse in klarer poetischer Sprache.

Alissa Walser, geboren 1961, studierte in New York und Wien Malerei. Seit 1987 lebt sie als Übersetzerin und Malerin in Frankfurt am Main. Für ihre Erzählung »Geschenkt« wurden ihr 1992 der Ingeborg-Bachmann-Preis und der Bettina-von-Arnim-Preis verliehen. 1994 erschien ihr Buch »Dies ist nicht meine ganze Geschichte«, im Frühjahr 2000 folgte der Erzählband »Die kleinere Hälfte der Welt«. Als Übersetzerin hat Alissa Walser außerdem die Tagebücher von Sylvia Plath sowie Theaterstücke unter anderem von Joyce Carol Oates, Edward Albee, Marsha Norman und Christopher Hampton ins Deutsche übertragen. 2009 erhielt sie für Ihre Übersetzung der Gedichte Sylvia Plaths den Paul-Scheerbart-Preis. Ihre eigenen Erzählungen wurden in englischer Übersetzung unter anderem in literarischen Zeitungen wie Open City und Grand Street veröffentlicht. Nach ihrem Roman »Am Anfang war die Nacht Musik«, für den sie den Spycher-Literaturpreis-Le k 2010 erhalten hat. Nach dem Erzählungsband »Immer ich« erschien zuletzt »Von den Tieren im Notieren«.
Dein ist sie nicht (tut mir leid, es zu sagen) die erzählte Geschichte.   Anne Carson   Immer ich   Er blickt zu mir herauf. Er wird der erste Tote meines Lebens sein, aber das weiß ich noch nicht. Ich weiß, in seinem Herzen steckt eine Kugel, und wundere mich, dass man mit einer Kugel im Herzen leben kann. Ich kenne niemanden sonst mit einer Kugel im Herzen. Und weiß auch nicht, wie sie dahin gekommen ist. Später, wenn es mir meine Mutter, während sie dreckiges Geschirr abspült und in die Maschine sortiert, verraten wird, werde ich plötzlich spüren, wie es ist, ohne Kugel im Herzen zu leben. Vorerst muss es ein Geheimnis bleiben. Etwas zwischen ihr und ihm wie zwischen Christkind und Osterhase. Nicht groß, aber geheim.   In dem Alter, in dem ein Kind Schuhe binden lernt, war ich mit meiner Mutter, mit meinen Geschwistern, ohne meinen Vater und noch ohne, wir sagten Onkel zu ihm, Onkel Uwe in eine neue Wohnung gezogen. Eine große Wohnung. Eine Wohnung mit einem Zimmer mehr. Ein Zimmer mehr wie ein Gedeck zu viel auf dem gedeckten Tisch. Inzwischen kniet er neben mir - in meiner Erinnerung. Ich sehe seinen Kopf von oben. Schütteres, streichholzkuppenkurzes, weißes Haar, das wie der Schaum am Strand auf seinen Speckfalten im Nacken ausläuft. In meiner Erinnerung ist sein Gesicht von Linien durchzogen wie ein Bewässerungssystem. Und wenn sein Mund lächelt, wird der ganze Kopf von seinem Lächeln geflutet. Er ähnelt einem Buddha. Die dicke Variante. Die dicke und alte Variante. Er hat sich mein rechtes Bein zwischen die Knie geklemmt und zieht den Schnürsenkel fest, wo immer er ihn zu fassen bekommt. Unterste, zweitunterste und so weiter Öse meines lackroten Kinderstiefels. Größe 31. Er arbeitet. Unten, sagt er, legt man den Finger drauf, da muss es straff bleiben. Sieht einfach aus. Die losen Enden des Schnürsenkels werden nach oben automatisch kürzer. Hinter den letzten Ösen hält er sie wie Zügel, zieht und zieht. Zieht mein Bein mit hoch, und ich verliere das Gleichgewicht. Wir lachen, als er mich auffängt. Stehen bleiben, sagt er. Stellt mich wieder auf die Beine, drückt meinen Fuß auf den Boden und zaubert direkt unterhalb meines Knies eine schöne, symmetrische Schleife. So, sagt er. Und jetzt du. Ich fädele den Senkel durch die untersten Ösen des linken Stiefels. Zerre an den Enden. Zieh doch, zieh, sagt er. Ich kippe, er fängt mich. Es funktioniert nicht. Geht nicht, sage ich. Immer ich sagen, sagt er. Vielleicht geht's anders, sage ich. Na, dann zeig mir doch wie. Ich fädele den Schnürsenkel locker von oben nach unten und über Kreuz wieder hoch. Bis zur Wade etwa, und beginne zu ziehen. Links geht es leicht. Rechts rührt sich nichts. Um die Wade liegt der Schaft einigermaßen eng an. In Knöchelhöhe ragt der Schnürsenkel als lose Schlinge über die lederne Zunge hinaus. Hm, sagt er und, Ob es so halten wird? Man braucht halt Kraft, sage ich. Immer ich sagen, sagt er. Und wenn ich mich richtig erinnere, verwandelte er die Geste seines sich ansatzweise zwischen uns aufrichtenden Zeigefingers unauffällig in ein etwas verlegenes Augenwinkelauswischen.   Meine Mutter hat, keiner weiß, warum, wieder mal Kalbsvögel gekocht. Schon die Wortkombination ist unverdaulich. Das kann man nicht essen. Pfui Teufel. Immer ich sagen, lächelt Onkel Uwe und wartet, die Gabel mit einem abgeschnittenen Stück, in dessen Mitte ein weinendes Speckauge glänzt, vor dem offenen Mund, dass ich mich korrigiere. Kann man trotzdem nicht essen, den Fraß, zitiere ich, ohne ihn zu verraten, meinen Bruder, der es hinter vorgehaltener Hand wenigstens gleich beim richtigen Namen nannte: Kann man nicht fressen, das Aas. Ich schon, verkündet Onkel Uwe, wenn du mit »man« auch mich meinst. Onkel Uwe, diese Verkörperung der Abwesenheit meines leiblichen Vaters, war ein freundliches, schwammiges Wesen, das uns Kinder gelten ließ. Ich mochte ihn, aber er zählte nicht. Und wenn eines der Kinder krank war, kümmerte er sich mit Kräutertee und kalten Wickeln. Das ganze selbstlose Programm. Das Hand auf die Stirn legen, das Fieber messen. Und die Zeit kreist um sich selbst. Wie die Kugel in seinem Herzen. Ich halte die Luft an. Und die Zeit bleibt stehen. Das Essen wird kalt, das Loch immer größer. Ich denke, das Loch in seinem Herzen, das die Kugel einschließt, ist auch nur eine Kugel. Irgendwann sinkt seine Gabel auf den Teller. Ich atme wieder. Ich weiß nicht, ob ein oder aus. Alle schauen auf ihre Teller und kauen. Nur ich schlucke, ohne zu kauen, laut und deutlich.   Mädchen namens Debbie   Mein Baby hat einen Tinnitus,