: Susanne Mischke
: Tod an der Leine Kriminalroman
: Piper Verlag
: 9783492955720
: Hannover-Krimis
: 1
: CHF 7.80
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Menschentraube auf dem Altstadt-Flohmarkt am Ufer der Leine verwehrt Kommissar Fernando Rodriguez lange die Sicht auf eine grausame Wahrheit: auf die Leiche einer schönen Frau, die keine Unbekannte für ihn war. Als heimlicher Verehrer der jungen Regisseurin hatte er sich extra für diesen Abend Premierenkarten besorgt. Nun ist er am Boden zerstört. Nicht nur, dass seine Eroberungsträume geplatzt sind - auf das Team der Kripo Hannover um Casanova Rodriguez, Schafzüchter Bodo Völxen, Rabenmutter Oda Kristensen und Küken Jule Wedekin wartet ein stolzer Berg Arbeit. Und ein gefährlicher Einsatz, der nicht nur menschliche Abgründe offenbart. Denn der Fall der ermordeten Künstlerin führt die Ermittler tief hinab - bis in Hannovers Katakomben.

Susanne Mischke wurde 1960 in Kempten geboren und lebt heute in Wertach. Sie war mehrere Jahre Präsidentin der 'Sisters in Crime' und erschrieb sich mit ihren fesselnden Kriminalromanen eine große Fangemeinde. Für das Buch 'Wer nicht hören will, muß fühlen' erhielt sie die 'Agathe', den Frauen-Krimi-Preis der Stadt Wiesbaden. Ihre Hannover-Krimis haben über die Grenzen Niedersachsens hinaus großen Erfolg.

Mittwoch, 20. August

Blausamtig spannt sich der Himmelüber die Dächer von Linden. Ein Tag zum Heldenzeugen, denkt Fernando Rodriguez und fragt sich, woher er diesen seltsamen Ausdruck hat. Klingt nach seiner Kollegin Oda Kristensen, freilich mit einerüppigen Prise Sarkasmus dabei, oder vielleicht auch nach seinem Vorgesetzten Bodo Völxen, so ein bisschen angestaubt. Egal, irgendetwas liegt in der Luft, etwas Prickelndes, Vielversprechendes. Er nimmt einen tiefen Atemzug, und wünscht sich für heute eine Tatortbesichtigung im Freien, vielleicht eine Leiche im Wald, damit er diesen strahlenden Spätsommertag nicht zwischen muffigen Papierbergen in der Polizeidirektion verbringen muss. Beschwingt federt er die Straße entlang, grüßt die Entgegenkommenden, es sind jeden Tag dieselben: eine Frau mit einem Kinderwagen, die ein quengelndes größeres Kind hinter sich herzieht, zwei bleiche, rauchende Schüler, eine türkische Frau mit Kopftuch und Einkaufskorb, ein blonder Junge, der ihn frech angrinst und eine Fratze schneidet.»He, Bulle!«

»Pass bloß auf, du kleiner Pisser!«

»Selber klein!«

Fernando verzieht das Gesicht. Einen›Pisser‹ hätte er weggesteckt, aber klein– das schmerzt.»Na warte!« Mit ein paar raschen Schritten hat er den Bengel eingeholt und nimmt ihn in den Schwitzkasten.

»Verhafte mich doch, Bulle! Wo haste denn deine Handschellen und die Wumme, häh?«

Fernando lässt den Jungen los, nicht ohne ihm vorher noch einen Klaps hinter die Ohren mitzugeben.»Mach, dass du in die Schule kommst!«

Der Knirps reckt den Mittelfinger und hüpft schulranzenklappernd davon. Weiter vorne wartet schon sein Kumpel, man begrüßt sich mithigh five.

Fernando setzt seinen Weg fort. Rotzfrech, diese Kinder heutzutage, kein Respekt vor niemandem. Er steuert den Kiosk an der Ecke an, um seine Straßenbahnlektüre zu kaufen. Durch die Scheibe sieht er Pia, souveräne Herrscherinüber ihr Reich des Tabaks, der Süßigkeiten und der Schlagzeilen. Irgendwann wird man solche Läden unter Denkmalschutz stellen müssen, befürchtet Fernando, und registriert nebenbei: Verdammt, ich werde alt, ich denke schon wie ein alter Mann. Pia redet mit einer Frau, die Fernando nur von hinten sehen kann– schlanker, eleganter Hals, nackenlanges dunkles Haar.

»… bestimmst also du, einfach so, ja?«, hört Fernando Pia beim Betreten des winzigen Raumes durch das helle Bimmeln der Ladentür hindurch sagen. Pia, das erste Lächeln eines jeden Arbeitsmorgens, dieselbe Pia klingt nun, als könne sie ihre Wut nur mühsam im Zaum halten.

»Morgen, Pia.«

»Morgen, Fernando.« Die Kioskinhaberin versucht ein Lächeln, aber in ihren Augen sitzt noch immer ein Rest von Zorn. In diesem Moment dreht sich die andere Frau um und Fernando streift ein Blitz. Binnen ein, zwei Sekunden läuft ein Film vor ihm ab, der jedoch nicht sein Leben zeigt, sondern die lange Galerie seiner Freundinnen, Affären, Geliebten… alle hübsch anzusehen, manche sogar ziemlich, aber gegen diese Frau sind sie allesamt nur Abziehbilder. Diese hier ist das Original, das absolut unübertreffliche Meisterstück. Hat die Welt je solche Augenbrauen gesehen? Und dieser Blick– klar, sezierend, intensiv– dagegen der Mund– die pure Erotik, die schiere Verheißung, gewürzt mit einer Spur Arroganz. Fernando spürt das Blut durch seine Adern pulsieren, als sein Blicküber die hoch angesetzten Brüste huscht, die sich frech unter dem schwarzen Pullover abzeichnen. Ihre Hüften in der Edeljeans sind schmal, fast knabenhaft, und vermutlich könnte er ihre Taille mit beiden Händen umfassen– eine Vorstellung, die ihm den Atem raubt. Wie kommt ein solchesÜberwesenüberhaupt in einen Lindener Zeitungskiosk? An wen erinnert sie ihn nur? Juliette Binoche? Ja, ein bisschen, dieser intellektuelle Touch, aber da ist noch was anderes… Isabelle Adjani! Isabelle Adjani in»Ein mörderischer Sommer«. Eine Frau, für die ein Mann sich mit Freuden ruinieren würde, eine Frau …

»EineBild, Fernando?«

Der Angesprochene schaut Pia an wie ein Schlafwandler, den man gerade vom Dach geholt hat. Was, wie, eineBild? Um Himmels willen, nein!»Die Zeit, bitte«, ordert Fernando.

»Zehn vor acht. Bist ganz schön spät dran heute.«

Fernando wird rot wie ein Stichling.»Die Zeitung!«, zischelt er Pia zu.

»Die Zeit? Die kommt erst morgen, heute ist Mittwoch«, klärt die Kioskbesitzerin den Ahnungslosen auf.»Oder willst du die von letzter Woche?«

»Nein, die habe ich schon«, behauptet Fernando und fügt hinzu, er habe sich im Tag geirrt.

»Das kann schon mal passieren«, sagt nun die Fremde. Fernandoüberläuft es heiß und kalt. Diese Stimme! Dunkel, geheimnisvoll, tragend.

»Meine Schwester«, erklärt Pia.

Wie kann ein solches Zauberwesen Pias Schwester sein? Gut, Pia ist nicht hässlich, hübsche Augen, nette Grübchen, aber sie ist keine Frau, die erotische Fantasien weckt. Fernandoüberwindet den Impuls, Pias Schwester die Hand zu küssen wie einer Königin. Stattdessen nickt er ihr feierlich zu und sagt:»Fernando Rodriguez.«

»Marla Toss.«

Marla. Wo kommt sie her, was hat sie hier zu suchen? Soll er es wagen, sie danach zu fragen? Oder ihr lieber erst mal ein Kompliment machen? Auf keinen Fall möchte er aufdringlich wirken, oder»schleimig«, wie seine Kollegin Jule Wedekin das nennen würde, aber ihm ist klar, dass er schleunigst etwas sagen muss, irgendetwas, das seinen weiteren Aufenthalt hier rechtfertigt. Ein bisschen Small-Talk, Herrgott, Fernando, das ist doch sonst eine deiner leichtestenÜbungen! Jeden Morgen