: Ramona Ziegler
: Herrgottswinkel Roman
: Piper Verlag
: 9783492958837
: 1
: CHF 8.70
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Tiefe Konflikte mit dem Bruder ihres Mannes und dessen Frau drohen Julias Familie zu entzweien. In ihrer Not besinnt sie sich auf die Geschichte ihrer weiblichen Vorfahren: drei Generationen von starken Frauen, die frei über ihr Leben bestimmen wollten. Die Berganna, deren Liebe zum Wilderer Daniel ein jähes Ende fand. Johanna, die mit dem Patriarchen des Orts 13 Kinder zeugte. Und Julias Großmutter Anna, der man nach der Geburt den unehelichen Sohn wegnahm. Sie alle hatten in ihrem Leben harte Kämpfe auszustehen - und bewahrten sich doch ihre innere Stärke. Eine Stärke, die auch Julia dringend braucht, als die Dinge sich zuspitzen ...

Ramona Ziegler, geb. 1961, wuchs in Westerhofen auf, einem Bauerndorf im Allgäu. Ausgelöst durch die Erzählungen einer Großtante, denen sie als Kind in den Sommerferien auf der Alm lauschte, hat sie sich schon früh mit der Geschichte ihrer Vorfahren beschäftigt. Viele Dokumente, unter anderem das Gedicht eines Verlegers auf ihre Großmutter, Familienfotos von den Anfängen des 20. Jahrhunderts bis heute sowie mündliche Überlieferungen bilden die Grundlage für Herrgottswinkel. Ramona Ziegler lebt mit ihrer Familie in Sonthofen im Allgäu.
Gewidmet der guten Fee in meinem Leben, Rosel, die an Lichtmess 2009 95 Jahre alt wurde. Ohne sie hätte ich dieses Buch nicht schreiben können.   Für Lina, die in meinem Herzen meine Oma war.   Und für Hans, dem ich so viel verdanke.   JULIA   DASS ES EINMAL SO WEIT KOMMEN WÜRDE, HÄTTE ICH mir selbst in meinen schlimmsten Träumen nicht ausmalen können. Mir war in meinem Leben nie etwas geschenkt worden, geschweige denn in den Schoß gefallen, aber die letzten vierundzwanzig Stunden stellten alles in den Schatten, was mir in meinem bisherigen Leben zugestoßen war. Es war stets ein harter Kampf gewesen, meine Ziele zu erreichen - obwohl diese gar nicht übermäßig zahlreich oder übertrieben ehrgeizig waren -, trotzdem hatte ich dafür viele Jahre des Wartens, der Demütigungen und Beleidigungen hinnehmen müssen. Doch Beharrlichkeit, Offenheit und vor allem mein Vertrauen - vielleicht könnte man es auch als eine Art naiver Nächstenliebe bezeichnen - hatten mich meinen bescheidenen Vorstellungen vom Glück mittlerweile ein ganzes Stück näher gebracht. Der hinter mir liegende Tag hatte jedoch all dies zunichtegemacht, und nun stand ich auf den Ruinen meines bisherigen Lebens. Ich konnte nicht mehr. Ich wollte nicht mehr. Und weder von der Kraft noch von dem Mut, noch einmal ganz unten anzufangen, war mir etwas geblieben. Im Haus waren schon alle zu Bett gegangen, und auch mein Mann gab neben mir die gleichmäßigen, tiefen Atemgeräusche des traumlosen Schläfers von sich. Nur ich konnte wieder einmal keine Ruhe finden. Wo ich ihn doch jetzt so dringend gebraucht hätte, nachdem wir gerade den heftigsten Streit unserer gesamten Ehe hinter uns - nein, besser gesagt, ohne Klärung vertagt - hatten. Aber das war typisch für Franz, er entzog sich immer von Neuem unseren Konflikten. Im Augenblick war es der Schlaf, der ihm die Möglichkeit bot, sich weitere Diskussionen zu ersparen. Sein Schlusssatz in unserer vorausgegangenen Auseinandersetzung hatte gelautet: »Ich kann und ich mag nicht mehr!« Typisch! Statt unsere Situation zu bereden und gemeinsam eine Lösung zu finden, zog er sich zurück und ließ mich mit den Schwierigkeiten allein. Doch nun hatte ich ein für alle Mal genug davon, es gab keinen Zweifel mehr für mich: Ich hatte mich in ihm getäuscht, er stand nicht wirklich zu mir. Liebe sah anders aus als das, was er mir zu geben bereit war. Sollte es Agnes, die Frau meines Schwagers, also doch geschafft haben, unsere Ehe zu zerstören! Seit Jahren musste ich mich von ihr und von Eberhart, dem fünfzehn Jahre älteren Bruder meines Mannes, demütigen lassen. Fast hatte ich mich daran gewöhnt, mit ihren andauernden Beschimpfungen zu leben, obwohl mein Selbstbewusstsein und mein inneres Gleichgewicht inzwischen äußerst in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Doch ich hatte ja meinen Mann, der mich immer wieder aufrichtete, und vor allem meine Kinder, die mich brauchten. Seit gestern war nun alles anders! »Ich verstehe dich einfach nicht mehr, Julia«, hatte Franz bei unserem Streit zu mir gesagt. »Mein Bruder und seine Frau sind dort, und wir leben hier in unseren vier Wänden. Lass sie doch sagen und machen, was sie wollen.« »Dazu bin ich ja bereit! auch, dass ich in ihren augen eine Hure sein soll, dass sie unterstellen, Susanne sei vielleicht gar nicht von dir, und dass ich nie die Richtige für dich sein werde, damit könnte ich leben. Aber dass du es nicht fertigbringst, an meiner Seite zu stehen, wenn sie mich so niedermachen, das nehme ich dir übel«, erwiderte ich aufgebracht. » Soll ich mich auch noch mit ihnen anlegen, reicht es nicht, wenn sie mit dir über Kreuz sind?« Sicher, für ihn war die Situation nicht einfach, immerhin war es sein Bruder, aber um eine Entscheidung würde er nicht herumkommen. »Ja, das solltest du, weil wir jetzt eine Familie sind und zueinander stehen müssen. In guten wie in schlechten Zeiten - das war doch auch dein Wille, oder erinnerst du dich nicht mehr? Wenn du von mir verlangst, ich solle das alles weiter erdulden, dann muss ich schon an deinen Versprechen zweifeln - und an deiner Liebe ebenfalls.« Danach gab ein Wort das andere, immer hitziger warfen wir uns gegenseitig unsere Verfehlungen an den Kopf, und am Schluss knallten Türen. Erst viel später im Bad folgten jene Sätze, die mich jetzt nicht einschlafen ließen: »Ich kann und ich mag nicht mehr! Vielleicht sollten wir uns besser trennen.« Für mich brach eine Welt zusammen, ich glaubte, meinen Ohren nicht zu trauen. Mein Mann nahm es tatsächlich in Kauf, dass unsere Familie zerbrach, weil ich die ständigen Beleidigungen seines Bruders nicht weiter ertragen wollte, denn es war nur Eberhart, der mir gegenüber Worte wie>dreckige MatzLuderweiblichen Wanderpokal· oder gar eine>FreizeitnutteSeelenlöcherschwindelnden HöhenMuckefuck<, wie ich wollte, und dazu gab es die köstlichen, oft noch ofenwarmen Semmeln und selbst gemachte Marmelade. Käse, Wurst und Eier waren den Gästen vorbehalten - doch manchmal fütterte ich heimlich, wenn Rosel im Laden Kundschaft hatte, ein Rädchen Wurst an die zwei Angorakatzen, die bei meiner Tante lebten und die mein Ein und Alles waren. Nach dem Frühstück durfte ich spülen und musste mich dabei auf einen Hocker stellen, da ich noch nicht groß genug war, um in die Spülschüssel auf dem Holzherd greifen zu können. Tante Rosel machte in der Zwischenzeit die Betten der Hausgäste, und wenn sie zurückkam, stand nicht selten die halbe Küche unter Wasser, aber wir lachten nur gemeinsam darüber, nie hätte Rosel mit mir geschimpft, und trockneten das gespülte Geschirr zusammen ab. Dann spielten wir den Rest des Vormittags Mensch-ärgere-dich-nicht. All diese Erinnerungen hatte der eine Satz von Tante Rosel sofort in mir wachgerufen. Ein wohliges Gefühl über diese Zeit des Glücks breitete sich in meinem Bauch aus. Mit einem Mal brach es aus mir heraus - ich heulte nur so drauflos, eine tiefe Traurigkeit hatte mich wieder überfallen. Krampfartig schüttelte mich ein nicht enden wollender Anfall aus Verzweiflung, Wut, Selbstmitleid und Enttäuschung, und Tante Rosel setzte sich zu mir auf das Kanapee, legte den Arm um meine Schulter und sah mich nur mit großen, verständnisvollen Augen an. »Was ist denn los, Julia, so kenne ich dich gar nicht?«, fragte sie schließlich. Ich musste erst warten, bis der Anfall sich etwas gelegt hatte, bevor ich zum Sprechen in der Lage war. »Bitte hilf mir, ich weiß nicht mehr weiter.« Dann sprudelte alles aus mir heraus, die Beleidigungen, die Demütigungen, meine problematische Ehe, meine Depressionen - unser böser Streit letzte Nacht. Die ganze Geschichte meines Leidens und die Ausweglosigkeit, die alles nur noch schlimmer machte. Rosel gab mir lange keine Antwort. Schließlich meinte sie nur: »Heute Nacht bleibst du auf jeden Fall hier. Ich muss erst einmal nachdenken.«