: Christine Brand
: Kalte Seelen Ein Fall für Milla Nova
: Atlantis Literatur
: 9783715275079
: 1
: CHF 13.40
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 384
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
TV-Journalist n Milla Nova lässt sich für eine Reportage eine Woche lang ins Frauengefängnis Hindelbank im Emmental einsperren. Hinter Gittern hört sie tragische Lebensgeschichten, wie die von Flor, die wegen Mordes angeklagt ist, aber ihre Unschuld beteuert, oder Gerüchte, wie die über namenlose Immigranten, die als Sans-Papiers in der Schweiz ein Schattenleben führten und spurlos verschwanden. Und sie hört von anonymen Leichen, die die Kantonspolizei Bern aus dem kalten Thunersee geborgen hat und bis heute nicht identifizieren konnte. Die Taten eines Rechtsextremisten? Milla Nova beginnt zu recherchieren und wird mit einer grausamen Wahrheit konfrontiert. Was hat all das mit ihrem Vater zu tun, den sie nie kennengelernt hat? Plötzlich blickt die kühne TVReporterin in die Abgründe ihrer eigenen Vergangenheit - und gerät selbst unter Verdacht.

Christine Brand, geboren und aufgewachsen im Emmental, ist Autorin und freie Journalistin. Sie arbeitete bei der NZZ am Sonntag, beim Schweizer Fernsehen SRF und bei der Berner Zeitung Der Bund, wo sie unter anderem Gerichtsreportagen verfasste und Einblick in die Welt der Justiz und der Kriminologie erhielt. Christine Brand hat neun Kriminalromane, zwei Bücher mit wahren Kriminalgeschichten und einen Märchenband publiziert. Zudem erschienen zahlreiche ihrer Kurzgeschichten in Anthologien. Christine Brand lebt heute in Zürich, ist aber öfter auf Reisen als zu Hause: Mit 44 entschied sie, ihren Traumjob und die Wohnung zu kündigen und sich von nahezu allem Besitz zu trennen. Seitdem schreibt sie am liebsten in einem Strandcafé auf Sansibar mit Blick auf das Meer.

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Zuletzt betreten Othmar Ehrsam und seine beiden Richterkollegen den Gerichtssaal. Direkt vor ihnen hat der Angeklagte mit seinem Verteidiger Platz genommen. Donovan Hardman ist ein Mann um die fünfzig, kräftig gebaut, etwas gedrungen, das Haar dicht und dunkel, aber von grauen Strähnen durchzogen. Er hat kein sympathisches Gesicht; es wirkt grob, die Nase ist mächtig, mit stark betontem Rücken, die Lippen sind zu schmal geraten, was ihm etwas Verschlagenes verleiht. Seine Augen glänzen, als wären sie von zu viel Tränenflüssigkeit benetzt. Donovan Hardman hat sich nicht die Mühe gemacht, einen Anzug anzuziehen, wie das andere Angeklagte tun. Seine Füße stecken in ausgetretenen Turnschuhen und weißen Socken. Dazu trägt er zu kurze, verwaschene Jeans und ein buntes Kurzärmelhemd, das Richter Ehrsam als Hawaiihemd klassifizieren würde. Darüber eine schwarze Lederweste. Seine Kleidung verrät den Amerikaner in ihm, der nichts mit seinen Schweizer Wurzeln anfangen kann, und wirkt neben dem Anzug seines Verteidigers unpassend und schäbig.

Links vor Richter Ehrsam sitzt der Staatsanwalt. Es ist der Chef persönlich, der die Anklage führt. Das hat er sich nicht nehmen lassen, nicht in einem aufsehenerregenden Prozess wie diesem. Und ganz rechts steht das Pult der Nebenklägerin Milla Nova und ihres Anwalts. Ehrsam hat zwar viel über dieTV-Reporterin gehört, sie aber noch nie gesehen. Er hat sie sich anders vorgestellt, größer, kräftiger, resoluter. Stattdessen sitzt vor ihm eine zierliche Person mit einer mädchenhaften Figur. Sie wirkt eher wie eine Frau, die man beschützen möchte, als eine, vor der man sich in Acht nehmen muss. Die schwarzen Locken hat sie streng zurückgebunden. Ihre Nervosität ist deutlich erkennbar. Pausenlos reibt sie sich die Hände, hin und wieder beißt sie sich auf die Unterlippe.

Hinter Milla Nova sind die Zuschauerreihen bis auf den letzten Stuhl besetzt. Einige Gesichter kennt der Richter aus früheren Verhandlungen. Neben der Eingangstür hat sich ein uniformierter, leicht übergewichtiger Polizist auf einem Stuhl postiert. Der Wachposten. Er sieht jetzt schon müde aus.

Othmar Ehrsam räuspert sich und setzt dem Gemurmel im Saal ein Ende: »Ich erkläre die Verhandlung gegen Donovan Hardman für eröffnet«, spricht er ins Mikrophon. Ehrsam kostet diesen Moment aus. Wie jedes Mal ist es ein gutes Gefühl, eine Dosis Adrenalin schießt durch seinen Körper. Er liebt seine Arbeit. Mit ruhiger, fester Stimme liest er die Anklage vor.

»Haben Sie verstanden, was Ihnen vorgeworfen wird?«, fragt er den Angeklagten, als er damit fertig ist.

»Ja, ich habe verstanden.«

Richter Ehrsam weist den Befragten auf sein Recht hin, die Aussage zu verweigern, dann beginnt er, ihm Fragen zu stellen.

»Mein Name ist Donovan Hardman«, lautet dessen erste Antwort. Er hört sich an, als würde er Kaugummi kauen, während er spricht. Nur bei genauem Hinhören erkennt man, dass sein Berndeutsch wirklich Berndeutsch und kein Englisch ist. Emotionslos gibt Donovan Hardman Auskunft über seine Herkunft, über die Gründe, weshalb er in die Schweiz gekommen ist, weshalb er Milla Nova stoppen wollte und weshalb er zwei Menschen tötete. Nichts Neues für Othmar Ehrsam. Steht alles in den Akten.

 

Auch Milla kennt längst die ganze Geschichte. Trotzdem erschüttert es sie, das Geschehene aus dem Mund dieses Mannes erzählt zu bekommen. Und zwar in einem Tonfall, als würde er die Gebrauchsanweisung eines Küchenmixers vorlesen. Als Hardman beschreibt, wie er ihre Nachbarin und Freundin Annalena erschossen hat, schließt Milla die Augen. Ihr Magen revoltiert gegen das, was ihre Ohren mit anhören müssen. Ihr wird übel. Und es wird nicht besser. Denn gleich