Andreas Föhr
Die stille Nacht
1. Akt
Die Limousine fuhr durch die Heilige Nacht und den Föhnsturm, der an diesem Abend durchs Voralpenland fegte. Der Mann am Steuer hieß Holger Wenger. Er war achtunddreißig Jahre alt, seine Züge weich, die Wangen unrasiert, die Augen von dunklen Schatten umrandet. Vor neunundzwanzig Jahren war Holgers Mutter in der Weihnachtsnacht mit ihrem Wagen gegen den zweihundert Jahre alten Ahornbaum gerast, der zwischen Moosrain und Hauserdörfl am Straßenrand stand. Die Polizei ging von Selbstmord aus. Vor neun Jahren erdrosselte Holger seine Freundin Sabine, nachdem er herausgefunden hatte, dass sie ihn betrog. Nach der Tat fuhr er zu dem Ahornbaum, an dem Holgers Mutter ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte, und vergrub die Leiche dort. Der Hund eines Spaziergängers entdeckte die Tote noch am gleichen Tag. Das psychologische Gutachten bescheinigte Holger eingeschränkte Zurechnungsfähigkeit. Der durch den frühen Tod der Mutter verursachte Schock habe bleibende Schäden hinterlassen, vor allem psychotisch ausgeprägte Verlassensängste. Holger wurde wegen Totschlags zu sieben Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Aufgrund einer günstigen Prognose war er vorgestern entlassen worden.
Das Mädchen auf dem Beifahrersitz war blass und sagte nichts. Ihre Augen blickten zur Wagendecke und blinzelten nicht. Die Würgemale am Hals bewegten sich nicht. Sie war tot. Holger wusste nicht genau, warum er durch die Nacht fuhr. Auch wusste er nicht, wo er hinfuhr, hatte aber ein Gefühl, als gehe es irgendwie in Richtung des alten Ahornbaumes.
Martin Wenger machte noch einen Rundgang durch den Speisesaal und überzeugte sich davon, dass die Tischdekoration stimmungsvoll war. Menschen, die Heiligabend in einem Hotel verbrachten, erwarteten ein angemessen festliches Ambiente. Martin tat alles, um den Wunsch seiner Gäste nach weihnachtlicher Erbauung zu erfüllen. Er selbst freilich hatte einen Beruf gewählt, der ihm das Weihnachtsfest vom Hals hielt.
Martin ging durch die Lobby und begrüßte die Stammgäste, die das Jahresende wie üblich in dem Hotel am Malerwinkel verbrachten. Beim Rezeptionisten erkundigte er sich, ob der BMW gereinigt in der Tiefgarage stehe. Der Rezeptionist sagte, der Wagen sei gereinigt, aber nicht mehr in der Tiefgarage. Martins Bruder sei damit weggefahren, habe der Hausmeister berichtet. Da sich der Bruder im Besitz der Wagenschlüssel befand, sei der Hausmeister davon ausgegangen, dass alles seine Ordnung habe. Ja, das habe es, sagte Martin und ärgerte sich. Denn er hatte Holger eingeschärft, er solle den Wagen nur im Notfall benutzen. Es sei auch noch jemand anders in dem Wagen gesessen, meinte der Portier. Eine Dame, die der Hausmeister aber nicht genau erkennen konnte. Martin bedankte sich und verließ schlechtgelaunt die Rezeption.
Martins Verstimmung rührte daher, dass er seine Freundin Jenny seit zwei Stunden nicht erreichen konnte. Ihr Handy war ausgeschaltet. Er wollte wissen, wie lange sie heute Abend bei ihren Eltern bleiben würde. Das neue Mädchen aus dem Service kreuzte Martins Weg und grüßte ihn lächelnd. Martin lächelte zurück und drehte sich nach ihr um. Sie wusste, wie man einen Hintern bewegt.
Martin ärgerte auch, dass sein Bruder ins Hotel gekommen war. Er war vorgestern aus dem Gefängnis entlassen worden und sollte zunächst bei Martin im Haus bleiben und fernsehen, am Computer spielen oder sonst etwas machen, bei dem er nicht mit anderen Menschen in Berührung kam. Martin wollte seinen Bruder langsam wieder in die normale Welt einführen. Wie genau, wusste er noch nicht. In der vorweihnachtlichen Hektik hatte er keine Zeit gehabt, sich etwas zu überlegen. Bis jetzt hatte er Holger weder ins Hotel mitgenommen, noch hatte er ihm Jenny vorgestellt. Möglicherweise hatte Holger das selbst in die Hand genommen. Und das war Martin aus mehreren Gründen unangenehm.
Er ging in sein Büro und wählte die Nummer des Autotelefons. Es dauerte eine Weile, bis Holger dranging. Er war mit dem Gerät nicht vertraut. »Apparat Martin Wenger.«
»Hier ist Marty. Du – ich sag’s dir! Ein Kratzer wenn an den Wagen kommt. Wo bist du denn?«
Holger musste vor einer kleinen Brücke bremsen, weil ein Wagen entgegenkam. Dem Mädchen neben ihm fiel der Kopf auf die Brust. »Ich seh mir ein bisschen die Gegend an.«
»Welche Gegend?«
»Moosrain …«
»Mann! Lass den Quatsch.