: Friedrich Ani
: Das Geheimnis der Königin Ein Fall für Tabor Süden
: Suhrkamp
: 9783518775783
: Ein Fall für Tabor Süden
: 1
: CHF 14.00
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: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 201
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Bei den Untersuchungen zum Tod eines Mannes, der in einem scheinbar leerstehenden Haus verhungerte, stößt die Kripo auf den Namen einer Frau: Soraya Roos. Das ruft Kommissar Tabor Süden auf den Plan, den Spezialisten für Vermissungen, denn vor zehn Jahren verließ Soraya von einem Tag auf den anderen ihre Familie und gilt seitdem als verschollen. Süden beginnt erneut mit der Suche und stößt auf eine Spur, die ihn nach Tissano führt, ein verschwiegenes Dorf im Friaul. Niemand dort will die Gesuchte kennen und doch ist Süden klar, dass dies der Ort ist, an dem er die Antworten auf all seine Fragen erhalten wird. Als es so weit ist, erlebt das Dorf eine blutige Nacht, die seine Bewohner niemals vergessen sollen ...



Friedrich Ani, geboren 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Jugendbücher, Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher. Sein Werk wurde mehrfachübersetzt und vielfach prämiert, u. a. mit dem Deutschen Krimipreis, dem Crime Cologne Award, dem Stuttgarter Krimipreis, dem Adolf-Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Friedrich Ani ist Mitglied des PEN-Berlin.

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Es war die blutigste Nacht, die das Dorf je erlebt hatte. Und niemand – nicht der Verwalter, nicht der Bürgermeister, nicht der Priester – hatte eine Erklärung, wie es zu dem Massaker kommen konnte. Über den kiesbedeckten Innenhof des ehemaligen Gutshofes zogen sich meterlange Blutspuren, Stühle waren umgestürzt, der Boden übersät von abgerissenen Blättern, Farnen und Gräsern. Die windige Juninacht war erfüllt von atemloser Stille. Sogar die Grillen hatten aufgehört zu zirpen. Und trotz des Windes war im weitläufigen, dicht bewachsenen Park kein Rascheln zu hören. Es war, als hätten die siebzehn Opfer, die in der Nähe des Teichs lagen, jedes Geräusch mit in den Tod genommen.

Im bleichen Licht, das aus den Fenstern im Erdgeschoss in den Hof fiel, standen reglos fünf Männer. Einer von ihnen war ich, ein anderer mein Freund und Kollege Martin Heuer, der dritte Roderich Hefele, der deutsche Besitzer des zu einem Hotel umgebauten Anwesens, der vierte Luigi Fadini, der Verwalter, und der fünfte ein Einheimischer, der Friauler Severino Aroppa, den Martin und ich bis kurz vor dem Unglück vernommen hatten.

Keiner von uns tat etwas. Im Haus hielten sich Kinder und Frauen auf, unter ihnen die Ehefrau und Tochter des Besitzers, ein paar Hotelgäste und meine Kollegin Sonja Feyerabend, die im Gegensatz zu Martin und mir Urlaub und die Gelegenheit ergriffen hatte, uns in dieses friulische Dorf zehn Kilometer südlich von Udine zu begleiten. Das hieß, sie hatte Martin Heuer im Auto chauffiert, während ich mit dem Zug angereist war. Bei der Fahrt durch den kilometerlangen Tauerntunnel wäre ich an Klaustrophobie gestorben. Und hätte Sonja eine andere Route genommen, wären wir mindestens doppelt so lang unterwegs gewesen.

Vier Tage nach meiner Ankunft ereignete sich die Blutnacht von Tissano, genau zu jenem Zeitpunkt, als Martin und ich kurz davorstanden, den Fall, an dem wir seit so langer Zeit gearbeitet hatten, endlich abzuschließen. Am zehnten Juni war ich am Bahnhof S.Stefano Udinese aus dem Zug gestiegen, verschwitzt und durch und durch mürrisch. Die Sonne brannte auf mich herunter, und ich war der einzige Mensch weit und breit. Sonja und Martin hatten versprochen, mich abzuholen, ich hielt vergebens nach ihnen Ausschau. Die unbefestigte Straße, die an dem verfallenen Bahnhofsgebäude vorbeiführte, kochte vor Hitze. Kein Auto, kein Radfahrer, kein Traktor, nichts, nirgends, nur vor Grün strotzende Wiesen, in der Ferne ein Pappelwald, auf der anderen Seite der Straße die trostlose Mauer eines Friedhofs. Der Zug war so schnell verschwunden, als wäre er innerhalb von Sekunden in der Mittagsglut verdampft.

Was mache ich hier?, dachte ich. Was mache ich bloß hier?

Am Wartehäuschen, einem würfelförmigen Gebilde aus billigen Metallstützen, fehlten die Scheiben. Die Fensterläden am einstöckigen Bahnhof waren geschlossen. Reste eines Fahrplans hingen an einer verwitterten Tafel. Unter einem schmalen, schmutzigen Wellblech verlief eine Leiste mit Kleiderhaken an der Wand, davor eine rechteckige Konstruktion aus Eisenstangen, an denen das Dach befestigt war. Welchen Zweck dieses Kabuff erfüllt hatte, blieb mir ein Rätsel.

Außerdem war es zu heiß, um über solche Dinge nachzudenken. Die einzige Frage, die ich zu klären hatte, war, in welcher Richtung man das Dorf erreichte. Allerdings wäre es interesssant gewesen zu erfahren, wer die zwei rot-weißen Schranken dirigierte und wo der Wärter sich aufhielt. Das Bahnhofsgebäude sah aus, als hätte seit Jahren kein Mensch darin gearbeitet.

Ich stand am Straßenrand, die blaue Reisetasche neben mir, es roch nach Gras und Blüten. An der Schmalseite des Hauses hing ein blaues Schild, weiß umrandet, auf dem stand in weißer Schrift: »S.Stefano Udinese«. Dann fiel mein Blick auf das Vordach über dem verriegelten Eingang. Unter dem mittleren Fenster im ersten Stock war ebenfalls ein blaues Schild angebracht, auf das jemand in weißer Schrift mit der Hand geschrieben hatte: »Tissano«. Vor dem Wort war ein Pfeil, der nach rechts zeigte.

Aber ich vermutete, gemeint war, man müsse links am Gebäude vorbeigehen und dann der Straße folgen, die nach wenigen Metern abbog und hinter einem Baum verschwand.

Und tatsächlich befand sich vor dem Baum, der sich als üppiger Strauch herausstellte, das Ortsschild. Neben einem Hinweis auf Tempo fünfzig zeigte ein zweites rundes Schild eine rot durchgestrichene Trompete. Sofort wünschte ich, es hätte dieses Schild in hundert Kopien auch in dem Dorf gegeben, in dem ich aufgewachsen war. Vielleicht wären mir dann die niederschmetternden Blaskonzerte erspart geblieben, mit denen der Trachtenverein mehrmals im Jahr seine Spendeneinnahmen zu rechtfertigen versuchte.

Weiße Wolkenschlieren überzogen den blassblauen Himmel, als ich nach einer Viertelstunde den viereckigen Steinturm einer Kirche erreichte, direkt an der Straße. An einigen der bungalowartigen Häuser, an denen ich vorübergekommen war, hatten Hunde gebellt, ansonsten regte sich kein Leben. Wie ich später erfuhr, hatten viele Bewohner nach einem schweren Erdbeben, das die Region verwüstet hatte, mit der finanziellen Unterstützung des Staates nicht nur solidere, sondern vor allem schönere Häuser bauen lassen, kleine weiße Villen mit breiten Terrassen und Zufahrten, lichten Räumen, Garagen, elektrischen Toren und Alarmanlagen. Im Vergleich zu den ursprünglichen, von der Katastrophe verschont gebliebenen, teilweise unverputzten Steinhäusern wirkten die Neubauten protzig und etwas selbstherrlich, wenngleich die Bewohner zur Dorfgemeinschaft zählten wie alle anderen, jedenfalls die Mehrzahl von ihnen.

Schön wäre es gewesen, wenn bei meiner Ankunft im Dorf ein Mitglied dieser Dorfgemeinschaft aufgetaucht wäre und mir weitergeholfen hätte, egal aus welcher Sorte von Behausung.

Da ich abgeholt werden sollte, hatte ich keine Wegbeschreibung, ich hatte mir nicht einmal den Namen unserer Unterkunft gemerkt. Sämtliche Unterlagen des Falls hatte Martin Heuer im Auto mitgenommen. Nur den Namen des Dorfes wusste ich, und ich hatte mich genau an die Fahrtroute aus dem Internet gehalten: mit dem Nachtzug nach Venedig, von dort weiter nach Udine und dann mit der Regionalbahn nach S.Stefano Udine Tissano.

Und es hatte geklappt. Ich war da.

Mitten im Friaul, an einem phantastischen, dreißig Grad heißen Tag. Allein in einer Geisterstadt.

Über der Eingangstür des gelben Gebäudes, vor dem ich stehen blieb und meine Tasche abstellte, hing das Schild eines Gasthauses. Die grünen Läden im ersten Stock waren geschlossen, die kleinen Fenster im Parterre vergittert. Der Verputz bröckelte. In diesem Gasthaus verkehrte schon lange kein Gast mehr. Dafür entdeckte ich schräg gegenüber an einer Kreuzung in einem der neu gebauten, nicht aufgetakelt wirkenden Häuser eine Bar. Vier Stufen führten zur Terrasse hinauf, und ich dachte, das müsste trotz der Hitze zu schaffen sein. Mittlerweile war mein ganzer Körper eingeschweißt. Aus unbegreiflichen Gründen trug ich meine an den Seiten geschnürte Lederhose und über dem weißen Hemd meine schwarze Lederjacke. Vielleicht war mein Gehirn durch die intensive Sonneneinstrahlung verklumpt, jedenfalls kam ich nicht auf die Idee, die Jacke auszuziehen.

Die Markise über der Terrasse spendete zwar Schatten, brachte aber nicht die geringste Kühle. Ich setzte mich auf einen weißen Plastikstuhl und starrte das bunte Blechschild mit den Namen der Eissorten an. Auf dem Fensterbrett, unter dem ich saß, blühten Geranien in Kästen. Ein älterer Mann kam aus der Bar, offensichtlich der Wirt. Er begrüßte mich auf Italienisch, und ich bestellte etwas Unfassbares – eine Cola.

Ich trinke nie Cola. Ich hasse Cola. Ich ekele mich vor Cola.

Sitzend schwamm ich in Schweiß. Dann zog ich endlich die Lederjacke aus. Mein Hemd hätte ich auswringen können. Ich schnaufte. Ich war zu dick für diese Hitze. Ich war nicht dick. Ich versuchte zu denken, dass ich nicht dick war. Natürlich nicht. Ich hatte Übergewicht, das war alles. Ich hörte mich sprechen. Der Schweiß lief mir in den Mund. Der Wirt stellte ein Glas Cola mit Eis vor mich hin. Er sagte etwas, das ich nicht verstand. Ich sagte:»Grazie.« Er verschwand im Dunkeln der Bar. Ich trank. Und bevor ich weiter darüber nachdachte, hatte ich das Glas ausgetrunken. Ohne es einmal abzusetzen. ...