: Friedrich Ani
: Die Frau mit dem harten Kleid Ein Fall für Tabor Süden
: Suhrkamp
: 9783518775776
: Ein Fall für Tabor Süden
: 1
: CHF 14.00
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 200
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Johann Farak, 41, Sohn eines Ägypters, ist verschwunden. Doch außer seiner Schwester scheint ihn niemand zu vermissen. Er war ein Trinker, heißt es, er hat auf Holzbretter Bilder gemalt, die nichts taugen, sagen die Leute. Dann taucht eine geheimnisvolle junge Frau auf - und Kommissar Tabor Süden begreift plötzlich, was für ein trauriges Leben Johann Farak bisher geführt hat und dass er vielleicht gar keine Wahl hatte, als dieses Leben hinter sich zu lassen ...



Friedrich Ani, geboren 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Jugendbücher, Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher. Sein Werk wurde mehrfachübersetzt und vielfach prämiert, u. a. mit dem Deutschen Krimipreis, dem Crime Cologne Award, dem Stuttgarter Krimipreis, dem Adolf-Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Friedrich Ani ist Mitglied des PEN-Berlin.

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Dies ist die Geschichte von Johann Farak, deinem Vater, von dem du nichts wusstest. Auch ich weiß wenig von ihm, und was ich über ihn erfahren habe, beruht auf Aussagen von Leuten, die ihn zwar gekannt, aber selten ernst genommen haben, die meisten hielten ihn für einen Spinner, einige für einen Versager, andere für einen Alkoholiker. Ich halte ihn für einen Lebenskünstler, der gescheitert ist, und das ist in meinen Augen keine Schande.

In dem Bericht, den ich dir schicke, tauchen Menschen auf, die dir vollkommen unbekannt sein mögen, die aber dennoch Teil deines Lebens sind, auch wenn du sie nie bewusst wahrgenommen hast. Einigen von ihnen bist du begegnet, hast mit ihnen gesprochen, flüchtig, wie man mit jemandem spricht, den man nach dem Weg fragt oder im Gasthaus um die Speisekarte bittet und sich dabei nach dem Gericht erkundigt, das der andere gerade isst.

Ich kam mit ihnen als Sachbearbeiter im Fall der Vermissung deines Vaters in Kontakt, und manches von dem, was sie schilderten, verwendete ich für meine offiziellen Akten, vieles davon nicht. Dies steht nun auf den folgenden Seiten. Natürlich hätte ich, obwohl du mir das verboten hast, versuchen können, dich zu treffen und dir die Geschichte zu erzählen. Aber ich weiß nicht einmal, ob ich so lange hätte sprechen wollen. Ich bezweifele es. Zu schweigen fiel mir immer schon leichter, als zu sprechen, und das Briefeschreiben ist eine gute Möglichkeit, beides gleichzeitig zu tun.

Dieser Bericht enthält also die Geschichte deines Vaters aus der Sicht von Personen, die ihm nahestanden, ohne dass er selbst, so scheint mir heute, besonderen Wert auf ihre Nähe gelegt hätte. Vor allem schildere ich dir meine eigenen Beobachtungen und Vermutungen und Interpretationen. Der Grund, warum ich in den vergangenen zwei Wochen jede Nacht an dem Tisch in meinem Zimmer mit den gelben Wänden saß und schrieb, war: Ich wusste nicht, wohin mit diesen Erzählungen von Fremden, die um einen Mann kreisten, der mir nicht fremd ist, obwohl ich ihn so wenig kenne wie du. Vielleicht begreifen wir auf diesem Weg beide, worum es Johann Farak in diesem Leben ging, auch wenn es, glaube ich, nicht die geringste Rolle spielt, ob wir es begreifen oder nicht. Aber immerhin bist du seine Tochter und der einzige Mensch in eurer zerrissenen Familie, der die Tapetentür nicht nur bemerkt, sondern sogar geöffnet hat.

Die Polizeidienststelle in Münzing liegt in einer Seitenstraße gegenüber einer Bäckerei, was günstig war, da meine Kollegin Sonja Feyerabend vor der Fahrt aufs Land von nichts anderem gesprochen hatte als davon, dass ihr am Morgen nicht vergönnt gewesen war, in Ruhe ihren Kaffee auszutrinken. Sie hatte verschlafen und um acht Uhr einen Termin beim Zahnarzt, und bevor sie die Wohnung verließ, erhielt sie einen Anruf vom Leiter unseres Kommissariats, der ihr eine aktuelle Änderung im Dienstplan mitteilte. Anschließend musste sie beim Zahnarzt wegen eines Notfalls dreißig Minuten warten, umplärrt von zwei ihrer Meinung nach hyperneurotischen kleinen Kindern, die, wie Sonja vermutete, möglicherweise eine taube Mutter hatten. Diese habe ungerührt zwanzig Illustrierte gelesen, von denen sie jede Seite in atemberaubender Geschwindigkeit und mit einem Höchstmaß an Rascheln umblätterte. Und als Sonja wieder gehen wollte, erklärte ihr die Sprechstundenhelferin so laut, dass ihre Stimme in dem Vorraum widerhallte, einen neuen Termin könne sie allenfalls in drei Wochen bekommen.

Mit Sonja Feyerabend nach Münzing zu fahren war ein spezielles Vergnügen.

Nachdem wir am ersten Café im Dorf vorbeigefahren waren, wollte sie impulsiv wenden. Im letzten Moment bemerkte sie auf der Gegenfahrbahn einen Mopedfahrer.

Ich saß auf der Rückbank hinter dem Beifahrersitz und hielt Ausschau nach dem blauen Schild der Dienststelle. Wir fanden sie schnell. Und Sonja sah die Bäckerei und hinter den Fenstern die weißen Stehtische und klatschte wie ein glückliches Mädchen in die Hände.

»Und jetzt erzählen Sie«, sagte sie. Die erste Tasse hatte sie wortlos getrunken, dazu aß sie ein Croissant, danach noch ein zweites. Wir bestellten beide einen weiteren Kaffee. Auch auf der Fahrt hatte sie, abgesehen von einer Frage auf der Autobahn, den Mund nicht aufgebracht.

»Die nächste raus?«

»Die übernächste.«

Das Schweigen hatte mich nicht gestört, wie du dir denken kannst.

»Seine Schwester hat ihn als vermisst gemeldet«, sagte ich und sah hinüber zu dem flachen Gebäude, in dem die Polizei untergebracht war. Auf einemDIN-A4-Blatt hatte ich mir Notizen gemacht, außerdem hatte ich eine Kopie derVVA dabei, der vorläufigen Vermisstenanzeige, die die Kollegen in Münzing aufgenommen hatten. Da dein Vater seit ungefähr fünfzehn Jahren in der Landeshauptstadt lebte, gehörte der Fall zu unserem Dienstbezirk, andererseits war er in Münzing aufgewachsen und hatte hier nach wie vor offiziell seinen zweiten Wohnsitz. Wir hätten keinen Anlass gehabt, am selben Tag, an dem uns die Kollegen die Anzeige per Mail übermittelten, aufzubrechen, um eigene Recherchen anzustellen, wenn Polizeiobermeisterin Susanne Berkel nicht angerufen und uns eindringlich gebeten hätte zu kommen. Gemeinsam mit einem Kollegen hatte sie die aufgeregte und verweinte Frau an diesem Morgen vernommen. Und sie sei, erklärte Susanne Berkel am Telefon, überzeugt, dass die Frau, auch wenn sie angetrunken und verwirrt gewesen sei, die Wahrheit gesagt habe.

»Wie heißt die Frau?«, fragte Sonja Feyerabend.

»Mathilda Ross.«

»Wieso ist sie sich so sicher, dass ihr Bruder verschwunden ist?«

»Sie hat heute Geburtstag, angeblich ruft er jedes Jahr morgens um sieben bei ihr an, um zu gratulieren.«

»Ist das ein Witz?« Sonja warf einen Blick zur Theke, wo reihenweise frisches Gebäck lag.

Ich hatte nur Kaffee getrunken, doch je länger ich dorthin sah, desto hungriger wurde ich. »Das ist kein Witz.«

»Das ist doch kein Grund, jemanden als vermisst zu melden.« Sie wurde ungehalten und glaubte, wir seien nur wegen der Launen einer Frau, die morgens um acht betrunken war, und einer übereifrigen Kollegin vierzig Kilometer weit gefahren.

Zu allem Überfluss kamen in diesem Moment drei Schulkinder in die Bäckerei, die sich leidenschaftlich anschrien.

»Du hast überhaupt nix kapiert, du blöder Depp.«

»Du auch nicht.«

»Ich krieg aber von meiner Mama noch fünf Euros und dann kauf ich mir die Böller.«

Mit ihren Rucksäcken rempelten sie Sonja an und schrien ihre Bestellung über die Theke.

»Eine Breze.«

»Für mich auch!«

»Und für mich auch.«

Sonja setzte sich ihre schwarze Lederschirmmütze auf und verließ eilig den Laden.

»Wiedersehen«, sagte ich zu der Verkäuferin, nachdem ich bezahlt hatte.

Draußen war es kalt, ein schneeiger Wind wehte. Kein Funken Sonne.

Ich lief Sonja hinterher.

»Der Mann hat Selbstmordabsichten«, sagte ich.

»Ah ja?«

»Die Kollegin sagt, sie glaubt der Schwester.«

»Ich nicht.«

An diesem Freitag wären die Menschen, die Sonja Feyerabend über den Weg liefen, vermutlich besser zu Hause geblieben.

Bevor ich die Klingel an der Tür der Inspektion drückte, nahm ich Sonjas Hand und legte sie an meine Wange, kalt auf kalt.

»Sie sollten sich mal rasieren«, sagte sie.

Wie es in der Polizeidienstvorschrift heißt, gilt eine Person als vermisst, wenn sie ihren gewohnten Lebenskreis verlassen hat und ihr Aufenthalt unbekannt ist. Handelt es sich um Kinder, Jugendliche, verwirrte oder kranke Menschen, leiten wir sofort eine Fahndung ein. Bei Volljährigen, die verschwunden, aber nicht hilflos oder psychisch labil sind, muss eine konkrete Gefahr für Leib und Leben bestehen, sonst sind wir nicht zuständig. Unter »konkrete Gefahr« fällt die Möglichkeit einer Straftat, der ein Vermisster zum Opfer fallen könnte, ebenso wie der Verdacht auf Suizid. Nur unter diesen Umständen starten wir vom Kommissariat114 aus eineINPOL-Fahndung, was bedeutet, wir geben Daten über die vermisste Person in unser Informationssystem ein, an das auch das Landeskriminalamt angeschlossen ist, wo die Kollegen unsere Angaben mit denen über unbekannte Tote vergleichen.

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