STURZ
Knochen knacken, verdrehen sich, biegen sich. Straßenbelag frisst sich durch halb geöffnete Lippen, schiebt sich zwischen die Zähne, will weiter in den Kopf. Mit der Wucht des Aufpralls scheint sich die gesamte Welt gegen Stuntboi zu drücken.
ELLL, ein muskulöses Mädchen mit Raubtierzähnen und halbseitig rasierten Locken, hat alles mitangesehen, steht nur wenige Meter entfernt und wartet auf die nächste Regieanweisung. Hätte sie …? Was, wenn …? Nervös dreht sie den Kopf, hält Ausschau nach dem weggeschleuderten Brett. Das liegt auf dem Asphalt, scheinbar intakt, alle vier Rollen zeigen nach oben. Wie nannte Stuntboi das Ding? Sie hat es vergessen. Egal. Es gehört sowieso ins Museum und nicht auf die Straße. Niemand fährt mehr damit – außer Stuntboi, und der macht das ziemlich gut.
Eine Drohne schwirrt herbei, fokussiert den am Boden liegenden Stuntboi, filmt seine seltsam gebogenen Gliedmaßen – oder betrachtet sie bloß die endgültige Schönheit des Stunts?
»Wir haben die Aufnahmen. Wir brauchen den Jungen nicht mehr.«
Die körperlose Stimme des Regisseurs klingt zugleich blechern und fröhlich. Das ist meine Chance, denkt ELLL. Sie macht einen Schritt nach vorne, schaut hoch zur Drohne. Beim Sprechen zeigt sie schiefgewachsene Vorderzähne. »Ich kann ihn zum nächsten Medimat bringen.«
»Dann brauchst du dich hier nicht mehr blicken zu lassen. Und vom Lohn bekommst du nur die Hälfte.«
ELLL zuckt mit den Schultern. Wegen des jämmerlichen Lohns ist sie nicht hier. Ihre Auftraggeberin soll zufrieden sein, das ist alles, was zählt.
Erleichtert stellt sie fest: Stuntboi atmet noch. Sein Körper ist schwerer, als er aussieht. Sie braucht mehrere Anläufe, um ihn vom Bauch auf den Rücken zu drehen. Nase, Wangen und Mund sind beklebt mit Schottersteinchen und Blut. In den Schürfwunden glänzt es wie Wachs. Aus den Nasenlöchern schlängelt es sich in grellroten Fäden, gräbt Tunnel ins Make-up. Die darunterliegende Haut ist an manchen Stellen dunkler als an anderen. Ihr Glanz erinnert ELLL an die Panzer ausgestorbener Käfer, die sie als Exponate im Museum bewundert hat. »Stellt euch bloß vor«, hatte die KI die Ausstellung eröffnet, »vor dem großen Insektensterben lebten Menschen in einer Welt mit umherfliegenden Edelsteinen!« Nach dem Museumsbesuch litt ELLL tagelang an Magenschmerzen, weil sie chronische Angst vor dem Untergang des Planeten hat, was seit 2017 eine anerkannte psychische Störung ist.
Sie zerrt an Stuntbois Perücke, muss fest zupacken, denn die falschen Haare sind mit Klebstoff am Schädel fixiert. Darunter ist die Haut rasiert. Nur oben in der Mitte thront ein kunstvolles Gebilde aus eng am Kopf geflochtenen Zöpfen.
Endlich öffnet er die Augen. »Wo ist mein Board?«
ELLL versteht nicht, bis er zur anderen Seite zeigt. Ach, das Stück Plastik, auf dem er seine Tricks macht. Sie steht auf und holt es. Er kann es kaum erwarten, das Brett in die Hand zu bekommen. Als wäre es zerbrechlich oder gar wertvoll, wiegt er es in den Armen, schaut es sich genau an – inspiziert es! –, entdeckt die Steinchen im Gummi …
ELLL zieht den Atem ein.
Mit spitzen Fingern zupft er Steinchen für Steinchen aus der Rolle, wirft sie zur Seite. Dann schaut er lächelnd zu ihr hoch. »No Wahala – alles gut.«
ELLL atmet hörbar aus. Offenbar schöpft er keinen Verdacht, scheint einfach nur froh zu sein, dass mit dem Brett alles in Ordnung ist. Sie zieht ihr VR-Kostüm über den Kopf. Ein altes Shirt und weite Cargo-Hosen kommen zum Vorschein. Als Nächstes öffnet sie die komplizierten Schnallen der zwanzig Zentimeter hohen Tanzschuhe, wirft sie beiseite und schlüpft in ihre ausgetretenen Stiefel. Echte Bundeswehrstiefel, vintage, aus den 2070ern mit eingebautem Hitzeschutz.
Dann packt sie seine Hand, hilft ihm auf die Beine. Er zieht seine Hand zurück. Sie greift wieder danach, zerrt sie bis hoch auf ihre Schulter, legt seinen Arm um ihren Hals, um ihn besser stützen zu können.
Er hinkt, als sie loslaufen. Üb