Kapitel 1
Bentje
Aufbruch
Bentje hatte aufgeräumt, geputzt und alles für ihre Abfahrt vorbereitet. Jetzt saß sie in der Küche ihrer Hamburger Miniwohnung und gönnte sich ein aufgebackenes Croissant und eine Kaffeepause. Sie strich sich eine Strähne ihrer goldbraunen Locken hinter das Ohr und genoss die Ruhe.
Ursprünglich war es Imkes Wohnung gewesen. Sie hatten sich zu Beginn des Studiums kennengelernt. Bentje hatte damals verzweifelt versucht, eine bezahlbare Bleibe zu finden, und war drauf und dran gewesen, in ihrem Auto zu übernachten. Als Imke das mitbekommen hatte, war sie sofort bereit gewesen, der Kommilitonin zu helfen. Sie hatte Bentje kurzerhand ihre Schlafcouch angeboten.
»Erwarte nur nicht zu viel. Es ist nur ein Wohnklo«, hatte sie gesagt und Bentje angegrinst. »Aber bequemer als der Rücksitz deines Wagens ist es bestimmt.«
Und sie hatte recht behalten.
Was nur vorübergehend hatte sein sollen, hielt jetzt schon einige Jahre. Irgendwann hatten die beiden Frauen das gemeinschaftliche Leben in die kleine Küche verlegt und das Wohnzimmer war dauerhaft Bentjes Reich geworden. Daran hatte sich auch nach dem Ende des Studiums nichts geändert.
Inzwischen waren die Freundinnen im Berufsleben angekommen. Imke arbeitete in der Marketingabteilung einer Hamburger Brauerei. Bentje hatte einen Job in einer namhaften Marketingagentur gefunden.
Die Wohnung lag günstig für sie beide, und so hausten sie weiter zu zweit auf achtunddreißig Quadratmetern. Es war ein Wunder, dass sie sich noch immer mochten. Aber sie kamen nach wie vor hervorragend miteinander aus. Die Freundschaft war über die Jahre immer enger geworden. Bentje und Imke waren überzeugt, dass dieWG weiter funktionieren würde, solange keine von ihnen einen Mann anschleppte und seriös werden wollte.
Nachdem Bentje sich den letzten Bissen des Croissants in den Mund geschoben hatte, nahm sie das fast fertig gestrickte Tuch hoch, das sie schon auf dem Tisch bereitgelegt hatte. Kaffeezeit bedeutete bei ihr immer auch Strickzeit. Das gehörte für sie untrennbar zusammen. Sie betrachtete das Werk und orientierte sich kurz, um zu sehen, wie es weiterging. Dann wickelte sie den Faden um den Zeigefinger und zog ihn konzentriert durch die Maschen. Dabei zählte sie leise mit: »Ein Umschlag, zwei überzogen rechts zusammen, drei rechts …«
Um sicherzugehen, dass sie wirklich richtig weitergestrickt hatte, kontrollierte sie das Muster nach ein paar Maschen und nickte zufrieden. Es passte alles und sah sehr stimmig aus. Das würde der perfekte Laceabschluss für dieses besondere und überaus zarte Tuch werden.
Die Jaipur-Peace-Seide vonBC Garn war der Hammer. Diese Wolle hatte sie erst vor zwei Wochen in ihrem Lieblingswollgeschäft entdeckt. Sie hatte eigentlich nur schnell zwei Knäuel Sockenwolle kaufen wollen. Als sie den Laden nach einer Stunde verlassen hatte, war es doch wieder eine prall gefüllte Tasche mit neuen Wollschätzen gewesen. Genau genommen hatte Bentje zwei Hobbys: stricken und Wolle sammeln.
Gut gelaunt hatte sie ihre Neuentdeckung nach Hause getragen, sich einen Tee gekocht und mit Block, Stift und Wolle an den Tisch gesetzt. Mit schnellen Strichen hatte sie grob Form und Muster skizziert und sich ein paar Eckdaten notiert. Für eine detaillierte Planung fehlte es Bentje an Geduld. Aber das war in Ordnung. Sie brauchte nur einen groben Rahmen. Wenn sie am Anfang zu sehr ins Detail ging, würde sie im Laufe des Strickens doch wieder vieles ändern und sich dadurch doppelte Arbeit machen. Das wusste sie aus Erfahrung. Das endgültige Design entwickelte sich bei ihr während sie Masche um Masche arbeitete.
Ein halbrundes Tuch mit unterschiedlichen Streifen und einer Abschlussborte sollte es werden. Die Idee hatte sie direkt beim ersten Anfassen der zarten Seide gehabt. Wie immer, wenn ein neues Projekt anstand, hatte Bentje es kaum erwarten k