Einführung zur ersten deutschsprachigen Ausgabe
Bei der hier vorliegenden Reportage stellt sich zurecht die Frage nach ihrer Aktualität. Sie erscheint auf Deutsch 90 Jahre nach ihrer Niederschrift und ihrem einmaligen Abdruck in der Zeitung AHORA. Chaves Nogales’ Beobachtungen stellen sich zu den vielen Büchern über den Alltag im Nationalsozialismus, die nach 1945 erschienen, aber vor allem zählen sie zu den wenigen, die erschienen, als man Berichte über die Militarisierung Deutschlands nach der Machtergreifung noch für „alarmistisch“ hielt. Ein weiteres Beispiel wäre Leland Stowe’sNazi Means War, ein Bericht, in dem Deutschland als Nation auf dem klaren Weg in einen erneuten Krieg analysiert wird. Texte wie die Stowe’s, der schon 1933 geschrieben wurde, sind rar. Wir werden später auf Leland Stowe zurückkommen.
Unser historisches Bewusstsein formiert sich aus einer Auswahl von einigen, vielleicht Hundert Stunden Filmmaterial, Tonaufnahmen und einem Kanon an Dokumenten, sodass wir – früher als Tätervolk – und heute als Erben unserer Geschichte die Aufarbeitung beginnen konnten. Inwiefern uns diese eingezirkelte Quellenlage beeinflusst, wie wir die Periode des Nationalsozialismus sequenzieren und Kausalitäten aufstellen, die Antwort auf diese Frage weiß ich nur zu vermuten, aber auch die Summe der Erinnerungen aus den Fotoalben unserer Vorfahren wird kleiner, obwohl es immer dieselbe Anzahl Bilder enthält. Die Geschichte, die das Album erzählt, erweitert sich nur noch selten durch Erlebnisse, vielmehr schwindet sie durch die Abnahme lebendiger Erinnerungen. Die auf Deutsch erstmals vorliegende Reportage aus dem Jahr 1933 aus den ersten Wochen des Terrors nach der Machtergreifung Hitlers ist nach 90 Jahren gleichsam ein Innehalten der Geschichte, die sich immer weiter entfernt; das aus erster Hand Erzählte, die Stimmen der Überlebenden verstummen zunehmend und schriftliche Quellen versiegen. Wenn auch spät werden Mittäter in diesen Tagen noch von Gerichten als Täter verurteilt, angeklagt von den letzten Überlebenden aus Konzentrationslagern. Meistens hören wir von ihnen noch einmal, wenn sie die Welt verlassen haben. Fassungslos stoßen wir heute erneut auf den Typen des politischen und imperialistischen Demagogen und auf Gesellschaften, die ihre Bürgerrechte zugunsten eines Kults der Größe und geschichtlichen Vorsehung abtreten und zu größten Grausamkeiten gegen die Zivilisation „Ja“ sagen, oder „Ja“ sagen würden.
Bücher über den Nationalsozialismus werden ihre Aktualität nie verlieren, doch mit dem Verschwinden der Zeugen wird die Sprache unweigerlich sich verändern, und es geht nicht darum, wie spät das Reflexivpronomen im Satz kommt, sie droht dem Feld der Meinung über unmenschliche Regime überlassen, etwa acht Prozent der Deutschen grenzen sich nicht gegen den Nationalsozialismus ab, sind „Philofaschisten“. Die Herausgabe der Tagebücher Victor Klemperers, die 1995 postum und vor allem mit der Distanz eines halben Jahrhunderts zum letzten Eintrag 1945 erschienen, bezeugen, welche Bedeutung lebendige Erinnerungen haben. Bücher wie Klemperers sind zuletzt lebendig gehaltene Erinnerungen – und ein Stachel für diese acht Prozent.
An anderer Stelle habe ich mir erlaubt, Victor Klemperer (1881 – 1960) und Manuel Chaves Nogales (1897 – 1944) in einem Atemzug zu nennen, im Nachwort zu Chaves Nogales’ RomanDie Erinnerungen des Meistertänzers Juan Martínez, der dabei war, der 2016 auf Deutsch erschien. Nicht immer stieß dieser Vergleich auf Verständnis, was daran liegen dürfte, dass man diesen Spanier im deutschsprachigen Raum kaum kennt.
Es ist also angebracht, den Journalisten Manuel Chaves Nogales der Leserschaft vorzustellen. Erfreulich ist, dass ihn das deutschsprachige Feuilleton zunehmend entdeckt, und dennoch se