Teil 1
1912
Hamburg
1
Sie tastete im Dunkeln umher. Einen Moment überkam sie die grauenvolle Gewissheit, dass sie blind war. Nie wieder würde sie Farben sehen, nie wieder das Gesicht ihrer Mutter. Die Panik packte sie so fest, dass sie aufschrie und sich mit den Händen über die Augen kratzte.
Da spürte sie den Verband.
Ava fiel wieder ein, was passiert war, und mit einem Stöhnen ließ sie sich in die Kissen zurücksinken. Sie war schweißgebadet.
Jedes Mal, wenn sie einschlief, erwachte sie danach voller Angst. Jedes Mal vergaß sie, dass ihre Augen nur verbunden waren. Dass sie noch sehen konnte.
«Ich nehme Ihnen die Binde ja gleich ab. So langsam sollten Sie sich daran gewöhnt haben, oder nicht? Dass Sie sich aber auch immer so anstellen müssen.» Die Stimme der Schwester klang ungeduldig, beinahe scharf.
Ava konnte es ihr nicht verdenken. Sie war eine undankbare Patientin. Drei Wochen war es nun her, dass man sie operiert hatte. Und noch immer musste sie so oft wie möglich mit Kräutern getränkte Umschläge auf die Augen legen, um zu verhindern, dass sie sich entzündeten. Damit die Umschläge nicht verrutschten, band man sie nachts fest.
«Haben Sie gehört, dass Sie bald entlassen werden? Es dauert nicht mehr lang.» Schwester Karla hob ihren Kopf vom Kissen und löste die feuchte Binde.
«Was?» Ava blinzelte, und die Erleichterung, die Farben und das Licht zu sehen, das Zimmer um sie her und sogar das verkniffene Gesicht der Schwester war wie jeden Tag so groß, dass ihr ein Gewicht von der Brust zu fallen schien. «Aber ich bin doch gar nicht gesund.» Plötzlich hämmerte ihr Herz. Allerdings nicht vor Freude. So ungeduldig sie auch war, endlich das Krankenhaus verlassen zu dürfen, endlich ins Leben zurückzukehren, so sehr fürchtete sie sich auch davor.
«Ein wenig müssen Sie auch noch warten, aber die Entzündung ist unter Kontrolle. Sie können dann von Ihrem Hausarzt weiter behandelt werden.»
Ava hätte beinahe laut aufgelacht. Aber natürlich wusste die Schwester nicht, warum sie hier war und wie lächerlich dieser Gedanke schien. «Gut», murmelte sie und sank wieder in ihr Kissen zurück.
«Ich dachte, Sie machen Luftsprünge. So lange wie Sie hatten wir schon ewig niemanden hier. Zumindest nicht mit einem Trachom.»
«Danke, dass Sie mich daran erinnern», murrte Ava, und Schwester Karla warf ihr erst einen missbilligenden Blick zu, schmunzelte dann aber. «Ich werde Sie vermissen.»
«Werden Sie nicht», erwiderte Ava, musste dann aber ebenfalls lächeln.
Sobald die Schwester gegangen war, stand Ava auf, griff nach ihrer Strickjacke und tappte langsam zum Spiegel an der Wand. Weil ihre Krankheit einen so unerwartet schweren Verlauf genommen hatte und so ansteckend war, hatte sie die meiste Zeit über ein Einzelzimmer bewohnt. Anfangs war sie dankbar dafür gewesen, doch irgendwann waren die Stille und die Einsamkeit über sie hergefallen wie unsichtbare Wölfe, hatten sie halb wahnsinnig werden lassen in der Dunkelheit. Sie ha