: Herbert Beckmann
: Der Amerikaner 1957 - Tod in Berlin
: Aufbau Verlag
: 9783841229205
: Jo Sturm ermittelt
: 1
: CHF 7.20
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 384
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Ein junger Kommissar im Berlin der Swinging Fifties. 

Im September 1957, kurz nach der Eröffnung der neuen Kongresshalle, wird ein amerikanischer Journalist ermordet. Besonders brisant: Der Ermordete, der in Deutschland geboren ist, hatte auf Einladung der deutschen Regierung an den Feierlichkeiten teilgenommen. Der junge, ungestüme Kommissar Jo Sturm wird auf den Fall angesetzt. Doch leider behindert sein Vorgesetzter seine Arbeit ständig. Und dann scheint sich auch noch die CIA brennend für seine Ermittlungen zu interessieren ... 

Ein packender Kriminalroman in Zeiten des Kalten Krieges.



Herbert Beckmann, Jahrgang 1960, hat zahlreiche Bücher und Hörfunksendungen mit Bezug zu Berlin veröffentlicht, wo er seit 40 Jahren lebt und arbeitet. Mit der Figur 'Jo Sturm' wendet er sich zum ersten Mal den fünfziger Jahren in Berlin zu.

Samstag, 21. September 1957


Jo Sturm sah auf die Armbanduhr. Viertel vor acht. Bis zur Dienststelle in der Gothaer brauchte er eine knappe halbe Stunde. Na, wenn schon, es war Samstagmorgen, die sollten sich nicht so haben, wenn er ein paar Minuten zu spät kam. Nach dem Kaffee zum Frühstück, das Frau Küpper, seine Wohnungswirtin, für ihn und Helga, ihre fünfzehnjährige Tochter, gemacht hatte, wollte er noch eine Zigarette in seinem Zimmer rauchen, bevor er losfuhr.

Er ging zum Tisch, zog sich eine filterlose Camel aus der Schachtel und zündete sie an. Aus dem Radio dudelte seichte Tanzmusik, er ging zum Gerät hinüber, das auf dem Sideboard stand, und drehte am Knopf. Duke Ellington und sein Orchester. Auf denAFN war Verlass. Eine Live-Aufnahme vom letztjährigen Open-Air-Festival in Newport an der amerikanischen Ostküste, wie der Moderator mit sonorer Stimme verriet. Der gute alte Swing im fetzenden Rhythmus des Rock ’n’ Roll. Unglaublich. Jo angelte den gläsernen Aschenbecher vom Tisch und tänzelte damit zum Fenster.

Blauer Dunst, drinnen und draußen.

Er wohnte im dritten Stock dieses Altbaus, der den Krieg halbwegs unbeschadet überlebt hatte, aber er musste nicht nach oben schielen, da die Hauslücke gegenüber freien Blick bot. Der Himmel war bedeckt, doch es regnete nicht mehr. Er rauchte die Zigarette zu Ende und lauschte hingerissen, bis das Orchester sein Stück beendet hatte.

An der Garderobe im Flur traf er wieder mit Helga zusammen, die sich für die Schule fertig machte. Sie hatte ein blasses, rundes Gesicht, dunkle melancholische Augen und trug einen Pferdeschwanz nach neuester Rock-’n’-Roll-Mode, der quasi ein Eigenleben führte, weil er ständig in Bewegung war.

»Schönen Tag noch, Herr Sturm.«

»Dir auch, Helga.«

Sie blinzelte ihm zum Abschied zu, ehe sie noch vor ihm durch die Tür verschwand. Seit etwa einem halben Jahr flirtete sie mit ihm. Er nahm es gelassen. Aber hätte ihre Mutter, die vermutlich noch in der Küche hantierte, es gesehen, wäre der Kleinen eine Standpauke sicher gewesen.

Was etwas Komisches hatte, da Frau Mutter sich selbst einen Liebhaber leistete, der offiziell selbstverständlich nur »Werner, mein Bekannter« war. Petra Küpper war Anfang vierzig und Witwe, ihr Mann war im Krieg gefallen, Ostfront. Und Werner Markwort, ihr Bekannter, war der Berlin-Vertreter einer westdeutschen Firma für Herrenschuhe. Eine Ehefrau, zwei Kinder und ein Eigenheim warteten auf ihn in Osnabrück. Häufig die ganze Woche lang, wenn man Markworts Anwesenheit in Petra Küppers Wohnung bedachte. Und er ließ sich ihr gegenüber nicht lumpen, wie es schien: Der neue Herd, die Musiktruhe, der Grundig-Fernseher – Werner Markwort hatte in den letzten Jahren erheblich zu Petra Küppers kleinem Wohnkomfort beigetragen. Als freischaffende Klavierlehrerin konnte sie es sich anscheinend nicht leisten, seine Angebote mit großer Geste abzulehnen.

Jo Sturm war Polizist, kein Moralapostel, das hatte er Frau Küpper bereits zu verstehen gegeben. Sie hatte es mit Erleichterung zur Kenntnis genommen. Wirklich komisch, normalerweise war es umgekehrt zwischen Mieter und Untermieter.

Er zog das Jackett an, streifte sich den Mantel über und verließ die Wohnung.

Im Treppenhaus traf er die kleine Elke. Ihre langen blonden Zöpfe schlugen bei jedem ihrer Schritte wie Trommelstöcke gegen die braune Schultasche auf dem Rücken.

»Morg’n, Herr Sturm.« Es hörte sich an wie das Winseln eines Welpen.

»Morgen, Elke. Alles in Ordnung?«

Sie nickte schwach.

Es war ihr erstes Schuljahr, hatte gerade erst begonnen, und schon waren ihre Augen erloschen. Bis zum Sommer war sie zusammen mit ihrem kleinen Bruder Ralf in den Kindergarten »Rosa Thälmann« gegangen, nur wenige Hundert Meter entfernt und doch einen Sektor weiter. Ralle ging weiterhin zu Rosa Thälmann, Elke hatte ihre Angst vor den bewaffneten Grenzern des »demokratischen Berlin« nun eingetauscht gegen einen Klassenlehrer, der ihr gleich in der ersten Schulwoche den Rohrstock über die kleine Handfläche gezogen hatte. »Quasseln« hieß ihr Vergehen. Jo hatte es von Elkes Mutter erfahren. Sie arbeitete als Kellnerin in der »Goldenen Henne«, der nächsten Eckkneipe, und hatte ihre Kleine damit zu trösten versucht, dass der Lehrer schließlich auch Corinna, die andere kleine Quasselerin, gezüchtigt habe. Das hatte bei Elke endgültig die Lichter zum Erlöschen gebracht.

×

Auf dem Bürgersteig waren kaum Leute um die Uhrzeit, nicht mal ein Auto fuhr die Waldemar entlang. Am Straßenrand stand ein knapper Monatslohn von ihm, seinDKW-Motorroller, das hellblaue Modell Hobby, gebraucht gekauft. Er startete und fuhr los. Oranienstraße, Moritzplatz, nach Süden Richtung Gneisenaustraße, nach Westen und unter den Yorckbrücken hindurch bis zur Potsdamer und gleich darauf im Zickzack in die Grunewaldstraße bis zur Gothaer Straße. Wenn Berlin ein Gebiss wäre, dachte er zwischendurch, dann wäre ein Drittel heil und intakt, ein Drittel aus Gold, also Ersatz, und ein weiteres Drittel faulte oder fehlte ganz. Einerseits die schicken Neubauten des Aufbauprogramms, die sich einzeln oder zeilenweise neben den Vorkriegshäusern hervortaten. Andererseits noch immer und überall im Stadtbild: Lücken, Brachen, Ruinen und kahle Flächen, allesamt so einladend wie der Mond.

Das Präsidium der Kripo befand sich seit einem Jahr in der Gothaer Straße. Ein steinalter Verwaltungsklotz noch aus der Preußenzeit, den die Bombenhagel des Krieges unverständlicherweise verschont hatten. Am neuen Seitenflügel entlang der Grunewaldstraße wurde noch immer gearbeitet, aber das konnte für Jo Sturm den Gesamteindruck nicht mindern, sich in alten, uralten Zeiten zu bewegen. Lange Flure, breit wie Flüsse, grauer Granit und schwarzer Marmor. Flüstern war möglich, aber sinnlos, da es von allen Seiten verstärkt wurde.

Im Foyer begrüßte ihn von seinem Platz aus der alte Hoyer mit stummem Nicken.

»Morgen, Herr Hoyer.«

Wahrscheinlich war Hoyer gar nicht so alt, wie er Jo vorkam, sondern sah nur so aus, nachdem er erst vor ein paar Jahren aus der russischen Gefangenschaft zurückgekehrt war. Anders als Jos Vater, der in der Ukraine offenbar Partisanen in die Hände gefallen war. »Nicht daran denken«, verordnete sich Jos Mutter, die seit einigen Jahren in Weimar bei Sylvia, Jos zwei Jahre älterer Schwester, und ihrem Mann Heinz lebte. »An was willst du nicht denken?«, hatte Jo seine Mutter einmal gefragt. »An das, was die Partisanen mit ihm gemacht haben. Möglicherweise.« »Und willst du auch an das nicht denken, waser getan hat? Möglicherweise?« Sie hatte ihn nur mit großen Augen verständnislos angesehen.

Im Glas des Schalters, hinter dem Hoyer zusammengesunken saß, sah Jo für eine Sekunde sein eigenes verhuschtes Spiegelbild. Seine blonden Haare machten seinem Namen alle Ehre, sie standen buchstäblich Sturm, und er versuchte sie mit beiden Händen zu bändigen, während er wie immer im Laufschritt den Treppenaufgang nahm.

Nach dem Umzug aus der Friesenstraße im letzten Jahr befanden sich in dem Gebäude die Kernbereiche der Kripo, Betrug, Einbruch, Erkennungsdienst, Mord und Sitte. Jo arbeitete in der Abteilung V, Vermisstenfahndung. Das Sekretariat für die Abteilung befand sich gleich neben dem Aufgang, Jos Büro lag ganz am Ende des Gangs. Es war so klein, dass man glauben konnte, es müsse früher eine Abstellkammer gewesen sein. Wenigstens hatte es ein Fenster, wenn auch nur zum Innenhof hinaus. Wenn man sich Schreibtisch und Stuhl, Telefon und Aktenordner weg- und stattdessen eine schmale Pritsche plus Kloschüssel hinzudachte, konnte man sich den Raum bestens als eine Gefängniszelle vorstellen.

Egal, so hatte er wenigstens seine Ruhe, um nach Vermissten zu fahnden. Was hieß Ruhe? Auf dem Aktenschrank thronte Peggie, ein kleines, nussbraunes Kofferradio der Firma Akkord, das er wie jeden Morgen einschaltete, noch ehe er den Mantel ausgezogen hatte. Ein Trompetensolo, das sich ganz nach Satchmo, Louis Armstrong, anhörte, genau das, was er jetzt brauchte.

Auf seinem Schreibtisch lag eine Notiz von Lene Spohn, der Sekretärin. Was sie stets machte, wenn sie ihn am Apparat nicht erreichte. Sie mochte ihn, würde es also nicht weitertratschen, dass er mal wieder zu spät zum Dienst erschienen...