1. Am Vorabend
Brooklyn, 26. April 1892
Es klopfte leise an der Tür.
»Hallo? Wer ist da?«
Mae sprang auf und versuchte hastig, den Paravent vor die Schneiderpuppe zu ziehen. »Einen Moment!«
Die lackierten Holzelemente mit den chinesischen Malereien darauf begannen zu wanken. Das Kleid! Der Bräutigam durfte das Kleid nicht sehen! Mae riss so heftig an dem Raumtrenner, dass zwei Flügel zusammenklappten. Sie war nicht schnell genug. Zwei Finger klemmten zwischen den Holzplatten. Sie schrie leise auf vor Schmerz. Die Zimmertür öffnete sich.
»Nein!« Mae schluchzte. »Mein Kleid …«
»Oh Gott, Mae, was machst du da?« Madame de Meli schloss schnell die Tür und befreite Maes Hand aus dem hölzernen Ungetüm. Die Finger der rechten Hand waren geschwollen, an einem Nagel trat Blut hervor. Die Gesellschafterin zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und legte es um die Verletzung. Mae weinte.
»Ich wusste ja nicht, dass Sie es sind. Ich dachte, es wäre Johannes oder mein Vater.«
»Beruhige dich. Nein, die Männer sind doch gar nicht im Hause. Dein Vater ist mit Johannes noch einmal in den Hamilton Club gegangen.« Kopfschüttelnd läutete Florence de Meli nach einem Dienstmädchen und verlangte nach einem kalten Wickel und Eisstücken.
Wenig später saß Mae mit blassem Gesicht und verbundener Hand auf dem Sofa. Der Paravent stand wieder an seinem Platz und schirmte den Blick ab von dem Wunder, das auf der Schneiderpuppe auf seinen Einsatz wartete. Das Kleid war vor einem Monat aus Paris angekommen. Ein Traum aus weißem Seidensatin, über und über mit Volants aus Tüll und Spitze versehen. Die Ärmel, die jetzt auf dem toten Puppenkörper seltsam abgespreizt im Raum standen, waren noch einmal hier in Brooklyn von der Schneiderin nachgebessert worden, auf die Madame de Meli für solche Zwecke schwor.
Die Ärmelöffnungen bestanden aus hauchdünner Spitze, die auf die Hände der Braut fallen sollte. Morgen am Tag ihrer Hochzeit. Wenn Johannes Mae den Ring überstreifen würde, würde sich dieser Spitzenvorhang öffnen, und sie würde ihm die Hand darreichen. Der Ring. Das Symbol der Unendlichkeit. Der unendlichen Liebe. Mae tastete nach ihrer verbundenen Hand und zuckte zusammen. Das Blut pochte und der Schmerz war wieder da. Madame de Meli sah Mae an und dann die bandagierte Hand. »Ich weiß, woran du denkst. Darf ich? Ich bin ganz vorsichtig.«
Behutsam löste sie den Verband. Die Finger waren geschwollen.
»Oh nein, da passt kein Ring drüber!« Mae starrte entsetzt auf ihre verletzte Hand.
»Wir kühlen sie weiter. Du wirst sehen, morgen ist davon nichts mehr zu sehen. Und falls doch, wird Johannes dir den Ring auf die linke Seite stecken. So wie man das in Amerika macht. Es muss nicht alles nach deutschem Brauch passieren.« Florence de Meli strich ihrem Zögling beruhigend über den Arm. »Ein Schlückchen Champagner wird unsere Nerven beruhigen«, bestimmte sie und läutete abermals nach dem Dienstmädchen.
Die Gläser klirrten. Florence de Meli nahm einen großen Schluck. Mae zögerte.
»Was ist, mein Engel? Bist du so kurz vor deiner Hochzeit unter die Guttempler gegangen? Das wäre sehr schade, bei all de