Mittwoch, 14. März, 7.00 Uhr, Gerichtsmedizin, Sensengasse,
9. Bezirk
Draußen im Treppenhaus war alles ruhig. Nur die Tür der gegenüberliegenden Wohnung stand offen. Chefinspektor Bruno Horvath blickte nach links und nach rechts, bevor er von außen in den fremden Wohnungsflur spähte.
»Guten Morgen, was kann ich für Sie tun, Herr Nachbar?«
Die Stimme ließ ihn innerlich erstarren. Er brauchte eine Schrecksekunde, ehe er sich vom Anblick der auf dem Boden ausgelegten Folie und den Tiegeln mit frischer Farbe und Pinseln lösen konnte. Er hatte nur eine Tasse Kaffee intus und war spät dran. Der Lackgeruch verursachte ihm ein Brennen in den Nasenlöchern – und einen Druck im Gehirn.
Bruno blickte in das Gesicht eines Mannes, der ein Lächeln zur Schau trug, das ihm den Charme eines Trickbetrügers verlieh. Bruno schätzte ihn auf Anfang fünfzig, den Falten und seinem weißen Haar nach zu urteilen. Er roch nach Terpentin.
»Seit wann wohnen Sie hier?«, fragte Bruno.
Der Mann erwiderte: »Seit gestern. Genau genommen seit vorletzter Woche, aber das Möbelhaus hat gestern erst das Bett und die Schränke geliefert. Darf ich mich vorstellen, Egon Schlesinger.«
»Horvath«, entgegnete Bruno und schüttelte die ihm dargereichte Hand.
»Hor…«, sein Gegenüber stockte und musterte ihn ein paar Sekunden länger als nötig. Die linke Gesichtshälfte schien zu gefrieren. Bruno setzte ein Lächeln auf. »Entschuldigung«, sagte Schlesinger, »Herr Horvath, Sie haben mich gerade an jemanden erinnert, den ich einmal gut kannte.«
»Ach, wirklich?« Bruno hatte keine Zeit, mit dem neuen Nachbarn über Ähnlichkeiten zu plauschen. Vielleicht ein andermal! Er musste zu einem Termin in der Gerichtsmedizin, der Priorität hatte.
Egon Schlesinger nickte ihm zu. »Da sieht man mal wieder, wie schnell ein Mensch in Vergessenheit gerät«, sagte er. Gab es eine bedeutungslosere Floskel?
»Ja, so ist es«, stimmte Bruno ihm zu.
»Ist das nichtgrauenhaft?«
»Was?« Bruno wunderte sich über die drastische Wortwahl. Einen Umzug mit Grauen in Verbindung zu setzen schien ihm etwas hoch gegriffen.
»Wie schnell wir Menschen vergessen, die aus unserem Leben verschwinden«, antwortete sein Nachbar und ließ seine Hand los. Bruno verabschiedete sich. Die Gerichtsmedizin befand sich nur zwei Straßenbahnstationen von der Wohnung entfernt. Eine Viertelstunde später stand er in der Sezierhalle mit verschränkten Armen, während das Gespräch mit dem Mann, dessen Namen er schon wieder vergessen hatte, noch in seinem Kopf nacharbeitete.
»Wann ist es das jemals nicht?«, sagte Bruno vor sich hin.
»Was?«, fragte Christina – seine Lebensgefährtin.
Christina arbeitete als Gerichtsmedizinerin. Sie streifte ihre Einmalhandschuhe ab und warf sie achtlos in eine Nierenschale.
»Grauenhaft!«, antwortete er. Was für ein hässliches Wort!
Christina und sein Kollege Schweiger maßen Bruno Horvath auf eine Weise, dass er die Fragezeichen in ihren Augen buchstäblich sehen konnte:Sollten sie sich Sorgen um ihn machen?
Bruno räusperte sich.
Christina fuhr fort: »Die Tote war zwischen fünfzehn und höchstens fünfundzwanzig Jahre alt. Wenn ihr mich fragt, dann hat sie mehr als fünf Jahre in dem Kofferraum gelegen. Durch das Wasser, das in das Innere des Fahrzeugwracks eingedrungen ist, konnte kein Sauerstoff an die Haut gelangen. Dadurch hat auch keine Verwesung eingesetzt, ähnlich wie bei Moorleichen, sondern es hat sich diese Wachsschicht hier um sie gebildet.« Christina kratzte mit einer Pinzette über die sanft geschwungene Stirn der jungen Frau. »Das ist wie Seife. Nur leider kann ich noch nicht sagen, ob sie bereits tot war, als ihr Mörder sie samt dem Fahrzeug in der Donau versenkt hat, oder ob er sie lebend in den Kofferraum gesperrt hat und sie ertrunken ist. Die inneren Organe einschließlich der Lunge haben sich verflüssigt. Als ich den Brustkorb aufgemacht habe, ist mir ihr Innenleben durch die Finger regelrecht davongeschwommen – eine ekelhafte Brühe!«
»Wie hält eine so wunderschöne Frau das nur aus?«, fragte Bruno und versuchte damit, von seiner eigenen Benommenheit abzulenken. Bruno sehnte sich nach seinem Ex-Kollegen Falco Brunner. Mit Falco hatte er über alles reden können, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Auch wenn Falco im Grunde ge