: Sarah Weeks
: Aurora und die Sache mit dem Glück
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446273573
: 1
: CHF 9.80
:
: Kinderbücher bis 11 Jahre
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Du bist okay, so wie du bist - Sarah Weeks erzählt poetisch und einfühlsam von einem Mädchen, das ihren Hund sucht und dabei ihr Glück findet.
Aurora weiß zwei Dinge: a) Die anderen Kinder halten sie für komisch, und b) das macht nichts, denn sie hat Duck, ihren Hund und allerbesten Freund. Ihn stört es nicht, dass sie ihre Sätze gern zweiteilt und andere seltsame Angewohnheiten hat. Doch dann ist Duck plötzlich verschwunden, und Auroras Welt steht kopf. Nicht nur, dass sie ihren einzigen Freund wiederfinden muss, ihre Eltern bekommen auch noch Besuch von einer jungen Frau namens Heidi. Die ist scheinbar genau das, was Aurora nicht ist: normal, beliebt, ein wahres Glückskind. Aurora kennt sie nur aus Erzählungen und will nichts mit ihr zu tun haben. Das ändert sich erst, als Heidi ihre Hilfe anbietet: bei der Suche nach Duck - und nach Auroras eigenem Glück.

Sarah Weeks, 1955 in Michigan geboren, ist Autorin zahlreicher preisgekrönter Romane und schreibt seit mehr als zwanzig Jahren Kinderbücher. Daneben besucht sie Schulen, gibt Schreibworkshops für Kinder und Erwachsene und unterrichtet Kreatives Schreiben. Sarah Weeks lebt in Nyack und in Jeffersonville im Bundesstaat New York. 2022 erscheint ihr Kinderbuch Aurora und die Sache mit dem Glück bei Hanser.

Mehr, als ein Vogel das Singen liebt


Ich beobachtete ein weißes Kaninchen mit einem geknickten Ohr, das über einen riesigen Löffel mit Schlagsahne hüpfte. So jedenfalls sah es für mich aus. Den ganzen Vormittag hatte ich auf der Ladefläche des rostigen alten Pick-ups meines Vaters gelegen und die Wolken betrachtet. Irgendwann tippte ich mir mit der Fingerspitze ein-, zwei-, dreimal auf die Nase und wünschte, ich hätte daran gedacht, sie einzucremen.

»Aurora!«, hörte ich meine Mutter aus dem Haus rufen. »Mittagessen!«

»Ich komme!«, rief ich zurück, rührte mich aber nicht vom Fleck. Ich war damit beschäftigt zu beobachten, wie das Kaninchen sich in ein Mädchen mit einer bauschigen Schleife im Haar verwandelte. Wie Lindsey Toffle, ein Mädchen, das in der Schule vor mir saß. Manchmal trug sie auch so eine Schleife, die so groß war, dass ich mich zur Seite neigen musste, um die Tafel zu sehen.

Die Wolke fiel auseinander und zog davon, aber ich lag immer noch da und dachte an Lindsey Toffle. Sie war das beliebteste Mädchen in meiner Klasse und konnte mich nicht ausstehen. Vielleicht hatte es was damit zu tun, dass ich sie in der Vorschule mal gebissen hatte, aber das war a) lange her und hatte b) kaum eine Spur hinterlassen. Der eigentliche Grund, warum Lindsey Toffle mich nicht mochte, war, dass ich komisch war.

Wenn ich in der Schule den Flur entlangging, hüpfte ich manchmal nur so zum Spaß auf einem Bein oder flatterte mit den Armen, als wäre ich ein Vogel. Oder ich redete, auch nur zum Spaß, mit einem britischen Akzent oder in einer Sprache, die ich erfunden hatte und »Piepisch« nannte. Ich trug meine T-Shirts linksherum, weil mich die Etiketten sogar noch störten, nachdem meine Mutter sie herausgeschnitten hatte. Ich zählte gern Sachen, malte zwanghaft die Os in Worten aus und hatte die Angewohnheit, meine Sätze in zwei Teile zu gliedern, in a) und b).

»Aurora!«, rief meine Mutter wieder.

»Ich komme!«

Ich kletterte von der Ladefläche und klopfte den Staub ab. Duck buddelte wie verrückt ein Loch hinten im Garten, die Erde flog nur so zwischen seinen Hinterbeinen durch. Als ich durch die Zähne pfiff, hörte er auf zu graben und kam zu mir gerannt. Duck war der süßeste, klügste, treueste Hund auf der Welt, und als wäre das nicht schon Grund genug, ihn zu lieben, rochen die Innenseiten seiner Ohren nach Popcorn.

Ich zog die Fliegengittertür auf. »Nach dir, Boss«, sagte ich mit meiner tiefsten Stimme. Duck folgte mir in die Küche und ließ sich erwartungsvoll auf dem Boden neben meinem Stuhl nieder.

»Glaub nicht, ich wüsste nicht, dass ihr unter einer Decke steckt«, sagte meine Mutter, die einen Teller Tomatensuppe und ein halbes Sandwich mit gegrilltem Käse vor mich hinstellte. »Wenn ich für jeden Happen, den du ›zufällig‹ für diesen Hund auf den Boden hast fallen lassen, fünf Cent bekommen hätte, wäre ich eine reiche Frau.«

Mein Vater sagt, meine Mutter heiße Ruby, weil ihre Eltern sie nur angesehen und gewusst hätten, dass sie ein Juwel war. Es gefällt ihr, wenn er das sagt. Das merke ich daran, dass ihre Augen dann leuchten.

»Wie kommst du mit der Flickendecke voran?«, fragte ich und biss eine Ecke von meinem Sandwich ab. Ich hatte ein System — erst die Ecken, dann eine Reihe winziger, gleichmäßig gesetzter Bisse am oberen Rand, damit es aussah wie Wellen. Ich zählte insgesamt sechzehn Bisse, einschließlich der Ecken.

Die Decke war für Heidi, ein Mädchen, das vor meiner Geburt eine Zeit lang bei meinen Eltern gelebt hatte. Inzwischen war sie kein Mädchen mehr, sondern erwachsen und mit einem sehr großen Mann verheiratet, Paul. Die Decke war für das Baby, das Heidi erwartete, ein kleines Mädchen, das im Juli geboren werden sollte.

»Mit der Bordüre bin ich fast fertig«, sagte meine Mutter. »Ich weiß nicht, ob Heidi den Stoff wiedererkennt, aber er stammt von den Vorhängen, die früher im hinteren Zimmer hingen, das jetzt deines ist. Heidi hat dort geschlafen, als sie hier war.«

»Ich weiß«, sagte ich und klopfte ein-, zwei-, dreimal auf die Tischkante. Das Klopfen war auch so eine komische Angewohnheit von mir — immer dreimal, weil Drei meine Lieblingszahl war.

Ich hatte Heidi nie kennengelernt, aber jede Menge Geschichten über sie gehört. In einer ging es um Jelly Beans und in einer anderen um einen Penny, der im Staubsauger feststeckte. Dann gab es noch die von Heidis Mama, wie sie gelernt hatte, einen elektrischen Dosenöffner zu benutzen, und noch eine von Bernadette, Heidis Nachbarin, die mit meinem Vater darum gewettet hatte, dass Heidi zehnmal hintereinander eine Münze werfen und richtig auf Kopf oder Zahl tippen konnte. Ich hatte die Heidi-Geschichten so oft gehört, dass ich sie auswendig kannte, aber meine liebste war die über mich. Meine Mutter erzählte sie mir immer gleich:

»Wir hatten sehr lange auf ein eigenes Kind gewartet und die Hoffnung schon so gut wie aufgegeben. Dann kam eines Tages aus heiterem Himmel eine Fremde in Liberty an. Sie hieß Heidi It. Von außen sah sie wie ein normales Mädchen aus, aber in ihrem Inneren hatte sie eine mächtige Glückssträhne, die sie wie ein Fluss durchströmte. Heidi blieb nicht sehr lange, aber ihr Besuch hat unser Leben für immer verändert. Bevor sie ging, gab sie ihre Glückssträhne an deinen Vater und mich weiter, und im folgenden Winter bist du an einem verschneiten Montag zur Welt gekommen.«

Das war’s. Die ganze Geschichte. Aber die Botschaft kam laut und klar bei mir an: Meinen Eltern war sehr viel Glück geschenkt worden, und sie hatten es ganz für den Wunsch aufgebraucht, mich zu bekommen.

Duck jaulte, um mich wissen zu lassen, dass er nicht mehr warten wollte.

»Piep-bup-piep-bup-bing-bing«, sagte ich.

»Übersetzung bitte«, erwiderte meine Mutter. Sie war es gewohnt, dass ich auf Piepisch mit ihr redete.

»Kann ich bitte etwas Milch haben?«, fragte ich.

Meine Mutter öffnete den Kühlschrank und holte eine Packung Milch heraus. Während sie mir den Rücken zudrehte, nutzte ich die Gelegenheit und ließ ein Stück Kruste für Duck auf den Boden fallen, das er rasch verschlang.

»Kaum zu glauben, dass Heidi alt genug ist, um ein Kind zu bekommen«, sagte meine Mutter wehmütig, als sie den Küchenschrank öffnete und ein hohes Glas mit einem fröhlichen Gänseblümchenmuster herausholte. »Mir kommt es vor, als hätte sie erst gestern an unserem Tisch gesessen und Blaubeerpfannkuchen gegessen.«

»Es waren keine Blaubeerpfannkuchen«, verbesserte ich sie. »Es waren normale Pfannkuchen mit Blaubeersirup.«

»Stimmt«, sagte sie. »Blaubeersirup.«

»Heidi war an dem Tag sauer auf Dad, weil er ohne sie nach Hilltop gefahren war. Später kam er zurück und holte sie, und danach hat sie ihren Großvater zum ersten Mal getroffen.«

Meine Mutter nickte und setzte das Glas zusammen mit einer Multivitamintablette vor mir ab. Sie trug die Schürze, die ich ihr im Jahr davor zum Muttertag geschenkt hatte.

»Du brauchst mehr Vitamin D«, sagte sie. »Das ist wichtig für deine Knochen.«

»Keine Angst, Mom«, sagte ich und klopfte dreimal mit dem Finger auf die glänzende hellrote Tablette. »Meinen Knochen geht es gut.«

»Mütter sind dazu da, sich Sorgen zu machen«, erklärte sie, während sie mir Milch nachschenkte.

»Dad sieht das anders. Er sagt, sich Sorgen machen ist wie ein Schaukelstuhl. Ein Zeitvertreib, der zu nichts führt.«

Meine Mutter seufzte. Sie wollte nicht, dass Leute sie davon abhielten, sich Sorgen zu machen, besonders nicht mein Vater.

»Tu mir einen Gefallen und nimm bitte die Tablette«, sagte sie.

Während sie ihre Schürze abnahm und an einen Haken im Besenschrank hängte, warf ich mir die Tablette in den Mund und spülte sie mit drei raschen Schlucken Milch hinunter. Die Vorstellung, wie Heidi die Pfannkuchen aß, ließ mich an ihren Großvater denken, der damals das Heim geleitet hatte, wo meine Mutter vor meiner Geburt gearbeitet hatte.

»Thurman Hills Augen hatten denselben Blauton wie das Stück Meerglas, das Bernadette in ihrer Schmuckschatulle aufbewahrte«, rezitierte ich sachlich.

...