: Andrea Barrett
: Schiffsfieber
: Unionsverlag
: 9783293311275
: 1
: CHF 11.60
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der junge Mendel streift durch seine Erbsenpflanzung, ein verwunschener Ort, in dem er das Geheimnis der Erblehre lüften wird und doch bald selbst nicht mehr daran glaubt. Zwei Frauen stellen sich gegen zähe Vorurteile und zweifeln die Lehrmeinungen an. Der alte Carl von Linné hat der Natur eine taxonomische Ordnung übergestreift, doch der Name seiner Tochter entschwindet im Nebel. Das heisere Gezänk nistender Möwen, nachtschwarze Jaguare, Vögel ohne Füße und der Zauber der Chemie befeuern die glühende Faszination an der Natur, den Drang, forschend die Welt zu erfassen. Andrea Barrett erzählt vom versteckten Preis hinter umwälzenden Erkenntnissen, von brennenden Zweifeln und dem, was bleibt, wenn es still wird.

Andrea Barrett, geboren 1954 in Boston, wuchs in Cape Cod, Massachusetts, auf und studierte Zoologie. Nach ihrem Studium wandte sie sich dem Schreiben zu und wurde seither mehrfach für ihre Werke ausgezeichnet, u. a. mit dem National Book Award für ihren Erzählband Schiffsfieber, dem MacArthur Fellowship und dem Rea Award for the Short Story. Sie lehrt Kreatives Schreiben am Williams College und am Warren Wilson College und lebt in North Adams, Massachusetts.

Habichtskraut


Dreißig Jahre lang, bis zu seiner Pensionierung, stellte mein Mann sich jedes Jahr im Herbst vor sein Genetikseminar für Fortgeschrittene und teilte Kopien von Mendels berühmtem Aufsatz über die Kreuzung von Gartenerbsen aus. Die Abhandlung sei von mustergültiger Klarheit, erklärte Richard seinen Studenten. Der Inbegriff dessen, wonach die Wissenschaft strebe.

Richard schritt vor der Tafel auf und ab und sprach frei und ungezwungen. Er war wie der Evolutionsforscher Robert Chambers mit einem sechsten Finger geboren und war sich seiner linken Hand mit der Operationsnarbe aus Kindertagen, als man ihm den überzähligen Finger entfernt hatte, immer noch unangenehm bewusst. Deshalb benutzte er, obwohl er mit ausladenden Gesten sprach, stets nur die rechte Hand und ließ die linke in der Hosentasche. Von der Rückseite des Raumes, wo ich jedes Jahr im Herbst saß, um mir diese Vorlesung anzuhören, konnte ich die Studenten beobachten.

Nachdem Richard die Abhandlung ausgeteilt hatte, erzählte er zunächst Gregor Mendels Lebensgeschichte in der konventionellen Form. Mendel, berichtete er, sei in einem Dörfchen im äußersten Nordwesten von Mähren aufgewachsen, das damals noch zum Habsburgischen Reich gehörte und später zur Tschechoslowakei. Mit einundzwanzig Jahren, als armer, bildungshungriger Mann, trat er in der Hauptstadt Brünn, dem heutigen Brno, in ein Augustinerkloster ein. Er absolvierte ein naturwissenschaftliches Studium und unterrichtete nach dem Examen an einer Oberschule der Stadt. 1856, im Alter von vierunddreißig Jahren, nahm er seine Versuche über Pflanzenhybriden auf, indem er Gartenerbsen künstlich befruchtete. Als Labor diente ihm ein kleines Beet an der Klostermauer.

Im Laufe der folgenden acht Jahre führte Mendel Hunderte von Experimenten mit Tausenden von Pflanzen durch und verfolgte die Muster, nach denen ihre Merkmale durch die Generationen weitergereicht wurden. Hochwüchsige und kleine Pflanzen mit weißen und lila Blüten; runzlige oder glatte Samen; Schoten, die sich um die Erbsen wölbten oder diese eng umhüllten. Er machte detaillierte Aufzeichnungen zu allen Kreuzungen und verwendete diese als Grundlage für die Abhandlung, welche die Studenten nun in Händen hielten. An einem klaren, kalten Abend des Jahres 1865 verlas er den ersten Teil dieser Abhandlung vor dem Kollegium des Naturforschenden Vereines zu Brünn, in dem er ebenfalls Mitglied war. Ungefähr vierzig Männer saßen im Publikum, einige wenige professionelle Wissenschaftler und zahlreiche engagierte Amateure. Mendel las eine Stunde lang, er beschrieb seine Experimente und die konstanten Muster der in seinen Hybriden auftretenden Merkmale. Einen Monat später, bei dem darauffolgenden Treffen des Kollegiums, stellte er die Theorie vor, die er zur Erklärung seiner Entdeckungen formuliert hatte.

Dort, in jenem kleinen überfüllten Raum, wurde die wissens