: Heike Duken
: Wenn das Leben dir eine Schildkröte schenkt Roman
: Limes
: 9783641232122
: 1
: CHF 8.10
:
: Erzählende Literatur
: German
: 272
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine Familie, die manchmal keine sein will, eine Schildkröte, die sie 40 Jahre begleitete und ein Geheimnis, das wohl oder übel ans Licht kommen muss ...
»Charly ist tot. Ich kann nichts dafür.« Mit diesen Worten lädt Großmutter Frieda die Familie in den Garten der alten Villa in Murnau zur Beisetzung ein. Charly, das war die Schildkröte der Familie, mit der vor über 40 Jahren alles begann. Denn Heinrich, der Großvater, der eigentlich gar nicht der Großvater ist, brachte Charly damals als Geschenk mit für die Kinder von Frieda, in die er sich gerade verliebte. Doch dass Heinrich auch Geheimnisse mitbrachte, die er länger hüten würde, als Charly am Leben sein sollte, ahnte damals keiner. Und er ist nicht der Einzige in diesem zusammengewürfelten Clan, der mit sich und seinen Mitmenschen zu kämpfen hat. Doch alle machen sich auf den Weg, um Charly die letzte Ehre zu erweisen. Es wird ein Tag, an dem alle etwas zu Ende bringen wollen und sich dennoch ein neuer Anfang entwickelt ...

Heike Duken, geboren 1966 in München, studierte Psychologie und arbeitet in Nürnberg als Psychotherapeutin in ihrer eigenen Praxis. Sie schreibt, seit sie die Buchstaben kennt, ihr erstes Werk war eine Piratengeschichte in der dritten Klasse. Ihr Romanprojekt »Wenn das Leben dir eine Schildkröte schenkt« wurde mit einem Stipendium des Deutschen Literaturfonds gefördert.

Xie Xie

Nele 1999

Der Schmerz kam schlagartig und sofort mit voller Wucht. Er fühlte sich anders an als alles, was ich kannte. Als würde mein Unterleib sich zur Faust ballen und gewalttätig werden.

Nach einer Aspirin und einer Stunde, die ich gekrümmt auf dem Sofa verbracht hatte, versuchte ich, Bert zu erreichen. Aber er war nicht im Büro, sondern unterwegs auf einer der Baustellen. Das kannte ich schon.

Wen konnte ich anrufen? Wen denn? Unsere einzigen Freunde hier wohnten außerhalb in Happy City, siebzig Kilometer entfernt. Und sie beherrschten ja auch nur ungefähr zehn chinesische Wörter, genau wie ich.

Blieb nur Greta, meine Assistentin. Sie war es gewohnt, am Sonntag angerufen zu werden. Wir waren es alle gewohnt. Aber Greta kam gerade heute nicht infrage. Auf keinen Fall.

Als hätte mein Körper das eingesehen, gab er plötzlich Ruhe. Schweigen da unten. Vielleicht bekam ich doch nur meine Tage. Vielleicht reagierte ich über, wieder einmal allein in dieser absurd großen Wohnung, gefangen zwischen Fensterscheiben, die sich nicht öffnen ließen. Ein Aquarium.

Ich sah hinunter auf das neue Shanghai. Novembersmog. Winzige Autos bewegten sich durch den gelblichen Nebel, aus dem halbfertige Hochhäuser ragten wie schlechte Zähne. Der Himmel darüber seit Wochen konstant grau und tief durchhängend, eine apokalyptische Lebensfeindlichkeit, so kam es mir vor. Am Horizont prangte grellrot leuchtend die Coca-Cola-Werbung, ein einsames Signal, eine letzte Assoziation: zu Hause.

Was mir am Freitag mit Greta passiert war, wäre vor ein paar Wochen noch undenkbar gewesen. Aber mein Heimweh hatte die letzte wütende Phase erreicht. Man fing an, alles zu hassen, wirklich alles zu verabscheuen, vollkommen beliebig. Jede Kleinigkeit nur ein weiterer Beweis für dieses Exil, moderne Sklaven waren wir, verschleppt in der Business Class.

Greta hatte in der Datei für die Präsentation wieder das falsche Logo verwendet, in dem das V mit dem W vertauscht war, sodass unsere schöne deutsche Marke, in der ganzen Welt mit solider Wertarbeit assoziiert, der Lächerlichkeit preisgegeben war. Diese Verballhornung hielt sich hartnäckig in den Dateien und brachte sämtliche Chefs und Chefchefs in null Komma null eins Sekunden auf hundertachtzig.

»Diese unendliche chinesische Blödheit!«, brüllte ich durchs Großraumbüro, außer Kontrolle geraten, eine Rassistin war ich. Und die Adressatin, Greta, stand auf, eine Chinesin, die sich ihren absurden Vornamen selbst verliehen hatte, aus Ehrfurcht vor den deutschen Vorgesetzten. Das war so üblich.

»Oh, vergessen«, flötete sie und trippelte auf ihren zehn Zentimeter hohen Lackpumps und in ihren Rüschenhotpants um den Schreibtisch herum. Sie war besonders umgänglich und bemüht in den letzten Tagen, weil es um ihre Hochzeit ging. Auch das war üblich, die Vorgesetzten erschienen zur Hochzeit und hielten Lobreden.

»Ich werde nicht zu deiner Hochzeit kommen«, herrschte ich sie an. »Und merk dir das endlich mit dem Logo. Merk es dir, Greta, hörst du?«

Ich konnte es nicht fassen. Was war aus mir geworden? Aber auch das war ja nur eine klägliche und eigennützige Reue.

Greta hatte gelächelt, sich umgedreht und war gegangen. Vielleicht hatte sie auf dem Klo geweint. Bestimmt sogar: Dieses Hochzeitsding war einfach extrem wichtig.

Der Schmerz kehrte zurück, und diesmal blieb mir die Luft weg. Ich bekam richtige, kalte, schweißnasse Angst. Und wählte doch Gretas Nummer, denn jetzt war es schon egal. Meine Assistentin ging jedoch nicht ran. Dieses eine Mal übernahm der Anrufbeantworter.

»Greta, hier ist Nele. Ich muss zum Arzt. Bitte, kannst du mich fahren und übersetzen? Es ist dringend, glaube ich.«

Ich wartete. In der Küche, über die Spüle gebeugt, ständig ganz kurz davor, mich zu überg