EINS
Toskana, 3. November 2001
Er hatte kein Ziel, keinen Plan, kein Dach überm Kopf und noch zweiundsiebzig Euro und dreiundzwanzig Cent in der Tasche. In seinem Koffer befanden sich zehn Unterhosen, ebenso viele Sockenpaare, vier T-Shirts, drei Pullover und zwei Jeans. Außerdem zwei Handtücher, sein Filofax und ein Kulturbeutel mit einer Haarbürste, einer Zahnbürste, einer fast leeren Tube Zahnpasta, einer Niveadose, einem Nageletui und einem Briefchen Aspirin. Auch ein Deostift und Creme gegen Herpes-Lippenbläschen. Gut eingebettet zwischen den Handtüchern und Pullovern, lagen sein Laptop, seine Kamera und eine Bilderrolle aus stabiler Pappe. In seiner Jackeninnentasche trug er seine Brieftasche mit der Krankenversicherungskarte, einer Kreditkarte, Ausweis, Führerschein und einem Foto seiner Tochter im Alter von fünf Jahren. Sie saß in einer Sandburg an der Ostsee und hielt triumphierend ihre Schippe in die Höhe. In der Jackenaußentasche steckte noch eine Lesebrille.
Das war alles, was von seinem Leben übrig geblieben war.
Es war jetzt knapp fünf Tage her, seit er nach einem Streit mit Jana das Haus verlassen hatte. Er fühlte sich als Verlierer, weil er gegangen war, aber das war nicht wichtig. Auch wenn sie triumphierte – er hätte es in ihrer Nähe keine fünf Minuten länger ausgehalten.
Dass er vor der großen Anzeigetafel auf dem Flughafen Tegel gestanden hatte, wusste er noch.Paris, Brüssel, Kopenhagen, Athen, Rom, Lissabon. Zehn Minuten, vielleicht auch eine halbe Stunde hatte er auf die rauf- und runterklappernden Buchstaben gestarrt, aber die Orte bedeuteten ihm nichts.Zürich, Budapest, Mailand, Stockholm. Geflogen war er in seinem Leben genug.
Er wandte sich ab und fuhr mit dem nächsten Bus zurück in die Stadt.
Was er in den darauffolgenden drei Tagen und Nächten getan hatte, konnte er jetzt nicht mehr sagen. Er versuchte sich zu erinnern, aber vor seinen Augen tauchten nur vereinzelte Bilder von Wartehallen, U-Bahnhöfen und Kneipen auf. Von einem grellbunten Drogeriemarkt, in dem er Wodka kaufte, und von einem Kanal, an dessen Ufer er sich übergab. Er hatte keine Erinnerung mehr an Wärme oder Kälte und glaubte, weder irgendetwas gegessen noch mit einem Menschen gesprochen zu haben.
Vor zwei Stunden war er in einer Toilette der Charité aufgewacht. Er lag in der engen Kabine auf dem klebrigen Fußboden, gekrümmt wie ein Embryo, den Kopf direkt neben der Toilettenschüssel, und mit seinen Armen umklammerte er den Fuß des Beckens wie ein Schiff brüchiger den rettenden Baumstamm. Mühsam zog er sich hoch und versuchte aufrecht zu stehen. In seinen Haaren klebte Erbrochenes, und erst jetzt bemerkte er, dass er direkt in einer mittlerweile getrockneten Lache gelegen hatte.
Er ekelte sich vor sich selbst, als er sein blasses, müdes Gesicht und seine zerzausten, verdreckten und seit Tagen nicht mehr gekämmten Haare im Spiegel sah. Sein Mund war ausgetrocknet, und sein Speichel schmeckte bitter und säuerlich zugleich. Am meisten wunderte er sich darüber, dass sein Koffer immer noch da war und neben ihm auf dem Fliesenboden stand.
Sein Koffer war das Wichtigste und Einzige, was er besaß. Er erinnerte sich dunkel an eine Situation, die zwei, drei oder auch schon fünf Tage her sein konnte. Er war am Ufer der Spree eingeschlafen. Seinen Koffer hatte er als Kissen benutzt und war davon aufgewacht, dass jemand dabei war, ihn unter seinem Kopf wegzuziehen. Ihm wurde schwindlig, als er hochfuhr und sah, wie ein ausgemergelter Mann Ende sechzig mit langem, verfilztem weißem Haar mit dem Koffer flüchtete.
So schnell war Jonathan schon seit Wochen nicht m