: Rose Macaulay
: Ein unerhörtes Alter Roman
: DuMont Buchverlag
: 9783832170110
: 1
: CHF 8.00
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 284
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Neville Hilary feiert auf dem Landsitz im Kreise der Familie ihren 43. Geburtstag. In der Mitte ihres Lebens realisiert sie, dass sie als Mutter von ihren Kindern Gerda und Kay nicht mehr gebraucht wird und dass sie anders als ihr Mann Rodney keine erfüllende Karriere vorzuweisen hat. Das Medizinstudium hatte Neville mit Anfang zwanzig für Ehe und Kinder abgebrochen, doch nun beschließt sie, dass es höchste Zeit ist, einen gesunden Egoismus zu pflegen und vergangenen Ambitionen nachzustreben: Sie wird an die Universität zurückkehren und das Examen absolvieren. Ihre 63-jährige Mutter, Mrs Hilary, fühlt sich unterdessen in ihrem Witwendasein derart unbeachtet, dass sie sich sogar der (von ihr zunächst argwöhnisch abgelehnten) Psychoanalyse zuwendet - mit dem Ziel, wenigstens beim Therapeuten endlich mal nur über sich selbst sprechen zu können. Und auch die anderen Frauen der Familie Hilary schlagen für ihre Zeit höchst ungewöhnliche Wege ein: Die unentschlossene Nan liebt zwar Barry, möchte aber vielleicht doch lieber ungebunden bleiben, die feministische Pamela findet ihr Glück in Arbeitsleben und Frauenwohngemeinschaft. Und dann wäre da noch die zwanzigjährige Gerda, jung und freigeistig, die alles kriegt, was sie will - und wenn es der Verehrer ihrer Tante Nan ist ... »Rose Macaulay ist eine der wenigen Autorinnen, von denen man sagen kann, dass sie unser Jahrhundert zierten.« Elizabeth Bowen

Rose Macaulay, 1881 in Rugby geboren, studierte in Oxford und lebte danach in London. Sie schrieb über zwanzig meist satirische Romane, daneben auch Biografien und Reiseliteratur. Kurz vor ihrem Tod 1958 wurde sie zur Dame Commander of the British Empire geadelt.

ERSTES KAPITEL

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Nevilles Geburtstag

Neville erwachte an ihrem Geburtstagsmorgen um fünf (die Stunde der Natur, nicht die der Menschen) aus dem träumerischen Schlaf anbrechender Sommertage, erhitzt von der Last zweier Laken und einer Decke, geweckt vom vielfachen hellen Rufen einer Welt voller Vögel. Schrill und melodisch erklangen sie rund um das überwachsene Haus wie hundert Bäche, die nach der Schneeschmelze steile Runsen hinunterschießen. Und ungleich jedem Bach und auch jedem Vogel und überhaupt jedem Ding auf der Welt außer einer Kuckucksuhr, rief unbeirrt in den Ästen der großen Ulme auf der anderen Seite des silberglänzenden Rasens ein Kuckuck.

Neville drehte sich um, legte ihr kleines Gesicht in die sonnengebräunten Hände und schaute verschlafen hinaus. Die prickelnde Freude des jungen Tags erfasste sie, als sie sie durch das offene Fenster einsog. Sie erschauderte verzückt, als ein kalter Hauch sich ihr auf die Blöße von Hals und Brust legte, und sie vergaß die rastlose Geburtstagsbitterkeit der Nacht; vergaß, wie sie wachgelegen und gedacht hatte: »Wieder ein Jahr vorbei und noch nichts zustande gebracht. Bald werden alle Jahre vorbei sein, ohne dass je etwas zustande gebracht wurde.« Vonihr zustande gebracht, meinte sie natürlich, wie alle wissen, die sich mit Geburtstagen auskennen. Aber was ›etwas‹ war und was ›nichts‹, wussten weder sie noch andere Geburtstagskinder angemessen zu benennen. Sie haben gelebt, sie haben gegessen, getrunken, geliebt, gebadet, gelitten, geplaudert, getanzt in der Nacht und gejubelt in der Früh und sich eigentlich beide Hände am Feuer des Lebens gewärmt, und doch sind sie noch nicht bereit, abzutreten, denn sie hecheln der Zeit hinterher, sind besessen von so vielen Welten und so vielen Tätigkeiten: das Geleistete winzig, das noch Ausstehende riesig.

Dies bedrückte Milton einst, als er dreiundzwanzig wurde, und es bedrückt jeden eitlen und ehrgeizigen Menschen mindestens einmal im Jahr. Manche nennen es Reue um verschwendete Tage und sind stolz darauf, andere nennen es Eitelkeit, Unzufriedenheit oder Gier und schämen sich deswegen. Doch ob so oder so – es spielt keine Rolle.

Neville streifte all diese Gedanken leichthin ab mit den Laken, sprang aus dem Bett und schlüpfte in Strandschuhe, warf sich einen großen Mantel über ihren schmalen, drahtigen Körper, trat leise auf den Flur, wo hinter drei geschlossenen Türen Rodney, Gerda und Kay schliefen, und stahl sich die Hintertreppe in die halbdunkle Küche hinunter, die hinter den Jalousien porzellanblau und morgenblass schimmerte. Sie machte sich eine Tasse Tee auf dem Gaskocher. Auch Brot und Marmelade nahm sie aus der Speisekammer und bestrich zwei dicke Schnitten damit, mampfte die eine und entschwand aus dem schlafenden Haus in den verwilderten Garten.

Neville blickte zu Gerdas Schlafzimmerfenster auf, das im Geißblatt ertrank, und hätte beinahe den Pfiff ertönen lassen, auf den Gerda üblicherweise antwortete. Beinahe, aber dann doch nicht. Alles in allem war es ein Morgen wie zum Alleinsein gemacht. Zudem wollte Neville eine Weile nichts mehr von Geburtstagen wissen, und Gerda hätte sie daran erinnert.

Sie ging über den Hof, um stattdessen Esau zu holen, der sie nicht daran erinnern würde und dessen überschäumende Freude sie mit einer mahnenden Geste dämpfte.

Über den feuchten, silbrigen Rasen schlenderte sie, zwischen den riesenhaften Schatten der Ulmen, ihre Füße in den alten Strandschuhen hinterließen dunkle Spuren im Tau, ihr Mund war voll Marmeladenbrot, der schwarze Zopf hüpfte auf ihren Schultern, und Esau tollte um sie herum. Über den Rasen weiter zum Wald, kühl und dämmrig auch er, aber nicht still, denn er widerhallte von Musik und raschelte vo