: Heinrich Mann
: Professor Unrat Oder: Das Ende eines Tyrannen
: Null Papier Verlag
: 9783962818197
: 1
: CHF 0.80
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 310
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der bekannteste Roman Manns ist eine böse Satire auf das Deutsche Kaiserreich und die herrschende Doppelmoral. Der tyrannische Lehrer Raat - von allen nur Professor Unrat geschimpft - ist seinen Schülern in herzlicher Abneigung zugetan. Überkorrekt und überpenibel macht er ihnen das Leben schwer, selbst wenn diese schon die Schule verlassen haben. Das Unheil naht, als sich Raat, in der Absicht, einige Schüler beim Fehltritt zu ertappen, in eine anrüchige Spelunke verirrt, wo er die fortan an nur noch 'Künstlerin' genannte Barsängerin Rosa Fröhlich kennenlernt: Ein liederliches Frauenzimmer, wild, unabhängig, ganz und gar nicht schicklich und sich ihrer Wirkung auf die Männer wohl bewusst. Kurz: eine Frau, für die die Zeit noch nicht reif war. Unrat, der ewige Witwer, verliebt sich und öffnet damit einer Lawine von Katastrophen Tür und Tor. Er macht sich zum Gespött, sein gesellschaftlicher Abstieg beginnt. Der Roman war Grundlage für einen der größten deutschen Kinoerfolge überhaupt: 'Der blaue Engel' von 1930. Der Film zeigte den ersten starken, unabhängigen und ikonenhaften Frauencharakter überhaupt auf einer Leinwand und bildete das ewige Fundament für die Weltkarriere der Marlene Dietrich. Null Papier Verlag

Luiz Heinrich Mann (27.03.1871-11.03.1950) war ein deutscher Schriftsteller aus der Familie Mann. Er war der ältere Bruder von Thomas Mann. Seine Erzählkunst war vom französischen Roman des 19. Jahrhunderts geprägt. Sein erzählerisches Werk steht neben einer ebenso reichen Betätigung als Essayist und Publizist. Als früher Gegner der Nationalsozialisten wurde er bereits 1933 mit Sanktionen belegt. Mann stand auf der ersten Ausbürgerungsliste des Deutschen Reichs von 1933, er befand sich dort in illusterer Gemeinschaft mit Lion Feuchtwanger, Alfred Kerr, Kurt Tucholsky und Philipp Scheidemann. Mann emigrierte nach Frankreich und später in die USA, wo er er zahlreiche Arbeiten, darunter viele antifaschistische Texte, verfasste.

I.


Da er Raat hieß, nann­te die gan­ze Schu­le ihn Un­rat. Nichts konn­te ein­fa­cher und na­tür­li­cher sein. Der und je­ner Pro­fes­sor wech­sel­ten zu­wei­len ihr Pseud­onym. Ein neu­er Schub Schü­ler ge­lang­te in die Klas­se, leg­te mord­gie­rig eine vom vo­ri­gen Jahr­gang noch nicht ge­nug ge­wür­dig­te Ko­mik an dem Leh­rer bloß und nann­te sie scho­nungs­los bei Na­men. Un­rat aber trug den sei­ni­gen seit vie­len Ge­ne­ra­tio­nen, der gan­zen Stadt war er ge­läu­fig, sei­ne Kol­le­gen be­nutz­ten ihn au­ßer­halb des Gym­na­si­ums und auch drin­nen, so­bald er den Rücken dreh­te. Die Her­ren, die in ih­rem Hau­se Schü­ler ver­pfleg­ten und sie zur Ar­beit an­hiel­ten, spra­chen vor ih­ren Pen­sio­nären vom Pro­fes­sor Un­rat. Der auf­ge­weck­te Kopf, der den Or­di­na­ri­us der Un­ter­se­kun­da hät­te neu be­ob­ach­ten und noch­mals ab­stem­peln wol­len, wäre nie durch­ge­drun­gen; schon dar­um nicht, weil der ge­wohn­te Ruf auf den al­ten Leh­rer noch so gut sei­ne Wir­kung übte wie vor sechs­und­zwan­zig Jah­ren. Man brauch­te nur auf dem Schul­hof, so­bald er vor­bei­kam, ein­an­der zu­zu­schrei­en:

»Riecht es hier nicht nach Un­rat?«

Oder:

»Oho! Ich wit­te­re Un­rat!«

Und so­fort zuck­te der Alte hef­tig mit der Schul­ter, im­mer mit der rech­ten, zu ho­hen, und sand­te schief aus sei­nen Bril­lenglä­sern einen grü­nen Blick, den die Schü­ler falsch nann­ten, und der scheu und rach­süch­tig war: der Blick ei­nes Ty­ran­nen mit schlech­tem Ge­wis­sen, der in den Fal­ten der Män­tel nach Dol­chen späht. Sein höl­zer­nes Kinn mit dem dün­nen, grau­gel­ben Bärt­chen dar­an klapp­te her­un­ter und hin­auf. Er konn­te dem Schü­ler, der ge­schri­en hat­te, »nichts be­wei­sen« und muss­te weiter­schlei­chen auf sei­nen ma­gern, ein­ge­knick­ten Bei­nen und un­ter sei­nem fet­ti­gen Mau­rer­hut.

Zu sei­ner Ju­bel­fei­er im Vor­jahr hat­te das Gym­na­si­um ihm einen Fa­ckel­zug ge­bracht. Er war auf sei­nen Bal­kon ge­tre­ten und hat­te ge­re­det. Wäh­rend alle Köp­fe, in den Na­cken ge­legt, zu ihm hin­aufsa­hen, war plötz­lich eine un­schö­ne Quetsch­stim­me los­ge­gan­gen:

»Da ist Un­rat in der Luft!«

An­de­re hat­ten wie­der­holt:

»Un­rat in der Luft! Un­rat in der Luft!«

Der Pro­fes­sor dort oben fing an zu stot­tern, ob­wohl er den Zwi­schen­fall vor­aus­ge­sehn hat­te, und sah da­bei je­dem der Schrei­er in den ge­öff­ne­ten Mund. Die an­de­ren Her­ren stan­den in der Nähe; er fühl­te, dass er wie­der ein­mal »nichts be­wei­sen« kön­ne; aber er merk­te sich alle Na­men. Schon tags dar­auf gab der mit der ge­quetsch­ten Stim­me da­durch, dass er das Hei­mat­dorf der »Jung­frau von Or­leans« nicht kann­te, dem Pro­fes­sor Ge­le­gen­heit zu der Ver­si­che­rung, er wer­de ihm im Le­ben noch oft­mals hin­der­lich sein. Rich­tig war die­ser Kie­se­lack zu Os­tern nicht ver­setzt wor­den. Mit ihm blie­ben die meis­ten in der Klas­se zu­rück von de­nen, die am Ju­bi­lä­ums­abend ge­schri­en hat­ten, so auch von Ertz­um. Loh­mann hat­te nicht ge­schri­en und blieb den­noch sit­zen. Die­ser er­leich­ter­te die Ab­sicht Un­rats durch sei­ne Träg­heit und je­ner durch sei­ne Un­be­gabt­heit. Nächs­ten Spät­herbst nun, an ei­nem Vor­mit­tag um elf, in der Pau­se vor dem Klas­sen­auf­satz über die »Jung­frau von Or­leans«, ge­sch­ah es, dass von Ertz­um, der der Jung­frau im­mer noch nicht nä­her­ge­tre­ten war und eine Ka­ta­stro­phe vor­aus­sah, in ei­nem An­fall schwer­fäl­li­ger Verzweif­lung das Fens­ter auf­riss und aufs Ge­ra­te­wohl mit wüs­ter Stim­me in den Ne­bel hin­aus­brüll­te:

»Un­rat!«

Es war ihm un­be­kannt, ob der Pro­fes­sor in der Nähe sei, und es war ihm gleich­gül­tig. Der arme, brei­te Land­jun­ker war nur von dem Be­dürf­nis fort­ge­ris­sen wor­den, noch einen kur­z­en Au­gen­blick sei­nen Or­ga­nen frei­es Spiel zu ge­wäh­ren, be­vor er sich für zwei Stun­den hin­ho­cken muss­te vor ein wei­ßes Blatt, das leer war, und es mit Wor­ten be­de­cken aus sei­nem Kopf her­aus, der auch leer war. Tat­säch­lich aber ging Un­rat gra­de über den Hof. Als der Ruf aus dem Fens­ter ihn traf, mach­te er einen ecki­gen Sprung. Im Ne­bel dro­ben un­ter­schied er von Ertz­ums knor­ri­gen Um­riss. Kein Schü­ler hielt sich drun­ten auf, kei­nem konn­te von Ertz­um das Wort zu­ge­ru­fen ha­ben. »Die­ses Mal«, dach­te Un­rat frohlo­ckend, »hat er mich ge­meint. Dies­mal kann ich es ihm be­wei­sen!«

Er nahm die Trep­pe in fünf Sät­zen, riss die Klas­sen­tür auf, has­te­te zwi­schen den Bän­ken hin­durch, schwang sich, in das Ka­the­der ge­krallt, auf die Stu­fe. Da blieb er be­bend stehn und muss­te Atem schöp­fen. Die Se­kun­da­ner hat­ten sich zu sei­ner Be­grü­ßung er­ho­ben, und äu­ßers­ter Lärm war jäh in ein Schwei­gen ver­sun­ken, das förm­lich be­täub­te. Sie sa­hen ih­rem Or­di­na­ri­us zu wie ei­nem ge­mein­ge­fähr­li­chen Vieh, das man lei­der nicht tot­schla­gen durf­te, und das au­gen­blick­lich so­gar einen pein­li­chen Vor­teil über sie ge­won­nen hat­te. Un­rats Brust ar­bei­te­te hef­tig; schließ­lich sag­te er mit sei­ner be­gra­be­nen Stim­me:

»Es ist mir da vor­hin im­mer mal wie­der ein Wort zu­ge­ru­fen wor­den, eine Be­zeich­nung – ein Name denn also: ich bin nicht ge­willt, ihn mir bie­ten zu las­sen. Ich wer­de die­se Schmä­hung durch sol­che Men­schen, als wel­che ich Sie ken­nen­zu­ler­nen lei­der Ge­le­gen­heit hat­te, nie dul­den, mer­ken Sie sich das! Ich wer­de Sie fas­sen, wo im­mer ich es ver­mag. Ihre Ver­wor­fen­heit, von Ertz­um, nicht ge­nug da­mit, dass sie mir Ab­scheu ein­flö­ßt, soll sie an der Fes­tig­keit ei­nes Ent­schlus­ses wie Glas zer­bre­chen, den ich Ih­nen hier­mit ver­kün­de. Noch heu­te wer­de ich von Ih­rer Tat dem Herrn Di­rek­tor An­zei­ge er­stat­ten, und was in mei­ner Macht steht, soll – traun für­wahr – ge­sche­hen, da­mit die An­stalt we­nigs­tens von dem schlimms­ten Ab­schaum der mensch­li­chen Ge­sell­schaft be­freit wer­de!«

Da­rauf riss er sich den Man­tel von den Schul­tern und zisch­te:

»Set­zen!«

Die Klas­se setz­te sich, nur von Ertz­um blieb stehn. Sein di­cker, gelb punk­tier­ter Kopf war jetzt so feu­er­rot wie die Bors­ten oben dar­auf. Er woll­te et­was sa­gen, setz­te mehr­mals an, gab es wie­der auf. Schließ­lich stieß er her­aus:

»Ich bin es nicht ge­we­sen, Herr Pro­fes­sor!«

Meh­re­re Stim­men un­ter­stütz­ten ihn, op­fer­freu­dig und so­li­da­risch:

»Er ist es nicht ge­we­sen!«

Un­rat stampf­te auf:

»Stil­le! … Und Sie, von Ertz­um, mer­ken Sie sich, dass Sie nicht der ers­te Ihres Na­mens sind, den ich in sei­ner Lauf­bahn – ge­wiss nun frei­lich – be­trächt­lich auf­ge­hal­ten habe, und dass ich Ih­nen auch fer­ner Ihr Fort­kom­men, wenn nicht gar un­mög­lich ma­chen, so doch, wie sei­ner­zeit Ihrem On­kel, we­sent­lich er­schwe­ren wer­de. Sie wol­len Of­fi­zier wer­den, nicht wahr, von Ertz­um? Das woll­te Ihr On­kel auch. Weil er je­doch das Ziel der Klas­se nie er­reich­te und das Rei­fe­zeug­nis für den Ein­jäh­rig-Frei­wil­li­gen-Dienst – auf­ge­merkt nun also – ihm dau­ernd ver­sagt...