Christina
Lüneburger Heide und Berlin, Juni 1989
»Warum sollte ich das wollen?« Christina verschränkte die Arme und machte ein entschlossenes Gesicht.
»Weil er dein Vater ist«, erwiderte Anne schlicht. Und verbesserte sich sogleich selbst:»War.«
Christinas Kiefer mahlten. »Das hat ihn nie interessiert«, presste sie hervor und präzisierte dann: »Ich habe ihn nie interessiert.«
Dem hatte ihre Mutter nichts entgegenzusetzen. Statt einer Erwiderung nahm sie etwas Kuchen auf die Gabel und schob ihn sich in den Mund. Christina hatte ihr Stück des Frankfurter Kranzes, den ihre Mutter extra gebacken hatte, noch nicht angerührt.
»Mir war Bernd in all den Jahren mehr Vater, als es mein Erzeuger jemals hätte sein können. Er fehlt mir nicht. Jetzt ist er tot. Das ist natürlich bedauerlich für ihn, vor allem, weil er noch gar nicht so alt war, aber mit mir hat das nichts zu tun.«
Anne nahm noch einen Schluck Kaffee, bevor sie mit Bedacht entgegnete: »Das sagst du jetzt, Chrissy. Aber irgendwann wirst du es vielleicht bereuen. Dann ist die letzte Chance dahin, mehr über deine Wurzeln zu erfahren. Vielleicht willst du doch irgendwann wissen, woher du stammst. Mir ist klar, dass ich selbst mit schuld daran bin, dass du nie eine Beziehung zu deinem leiblichen Vater aufbauen konntest – vielleicht war das ein Fehler.«
»Nein, Mama, war es nicht. Mir geht es gut. Es hat mir nie an etwas gefehlt. Warum soll ich nun nach Italien fahren und mich mit Dingen auseinandersetzen, die mit meinem Leben einfach nichts zu tun haben? Es kommt mir verlogen vor, jetzt dieses Erbe anzunehmen. Was soll ich mit einem Hof in der Toskana?«
Neben den Kuchentellern lagen einige Fotos über den Tisch verstreut – die meisten von ihnen vergilbt und mit gezacktem Rand. Anne nahm eines in die Hand und betrachtete es. »Es war nicht alles nur schlecht«, sagte sie unvermittelt. »Ich hatte eine schöne Zeit mit Fabrizio. Vielleicht waren wir zu jung. Aber es waren auch die äußeren Umstände, die gegen uns sprachen.« Sie strich mit dem Finger über die Fotografie.
Sentimentalität war normalerweise nicht die Art ihrer Mutter. Christina verstand gar nicht, dass sie sich plötzlich so anders anhörte.
»Er hat dich mit einem Kleinkind sitzen lassen und sich nicht mehr gekümmert, für mich sieht das nicht nach widrigen Umständen aus, sondern nach fehlendem Verantwortungsbewusstsein«, rief Christina ihrer Mutter ins Gedächtnis.
Anne seufzte. »Das Leben ist nicht nur schwarz-weiß, auch wenn diese alten Fotos das glauben lassen. Mir ist ja bewusst, dass ich bis vor Kurzem noch ganz anders gedacht habe. Aber da hatte ihn auch noch kein plötzlicher Herzinfarkt unversehens aus dem Leben gerissen. Irgendwie war er halt immer da, obwohl er nichtda war. Verstehst du? So etwas lässt eine