: Sigrid Grabner
: Jahrgang 42 Mein Leben zwischen den Zeiten
: EDITION digital
: 9783965216556
: 1
: CHF 7.20
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 437
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Am 29. Oktober 2022 wird die heute in Potsdam lebende Schriftstellerin Sigrid Grabner 80 Jahre alt. Rechnet man nach, dann kommt man logischerweise auf den Jahrgang 42 - so auch der Haupttitel des ersten Bandes der Autobiografie der Autorin, Indonesienkundlerin und Katholikin. Jahrgang 42, das bedeutet auch, dass die in Böhmen geborene kleine Sigrid in einem Kriegsjahr geboren wurde, und wie wir Nachgeborenen wissen, sollte dieser Krieg noch weitere 31 schreckliche Monate dauern. Unschwer kann man sich vorstellen, dass ein solcher Kriegsjahrgang für die Zukunft nichts Gutes verhieß. Und schon die allerersten Sätze dieser bewegenden Selbstlebensbeschreibung machen ebenso betroffen wie zugleich neugierig: Mein Leben war unerwünscht. Die Welt, in der ich ankommen wollte, bot alles auf, mich zu vernichten: Feuer, Wasser, Stürme, Erdbeben. Ich klammerte mich am Mutterboden fest, stillte meinen Durst mit Essig, nährte mich von Abfall, duckte mich vor Angriffen - ein unaufhörliches Ringen um Leben und Wachsen gegen den Unwillen des mütterlichen Körpers. Warum gab ich nicht auf, ließ einfach los? Niemals würde dieser Kampf ums Dasein enden, nicht im Dunkel dieser Höhle, nicht im Licht, das mir verheißen. Wer oder was zwang mich zu dieser Qual? Trotz allen Gefährdungen wuchs ich, bis ich an die Grenzen des mütterlichen Leibes stieß. Doch nun wollte er, der sich geweigert hatte, mich aufzunehmen, mich nicht freigeben. An mir selber sollte ich ersticken. Ein mutiger Arzt befreite mich in letzter Minute mittels eines geglückten Schnittes. Stolz auf seine Kunst, die Mutter und Kind das Leben erhalten hatte, präsentierte er das Neugeborene: ein Mädchen! Meine Mutter, soeben aus der Narkose erwacht, wandte sich enttäuscht ab. Wenn denn schon ein Kind, sollte es wenigstens ein Junge sein. Außer sich vor Zorn - es war Ende Oktober 1942 und sein erster Sohn war vor einem Monat an der Ostfront gefallen, sein zweiter Sohn würde in der Eiswüste von Stalingrad sterben - fuhr der Arzt sie an. Undankbar sei sie, so ein gesundes, schönes Kind. Meine Mutter rettete sich wieder in die Bewusstlosigkeit. Während der erste Teil der beiden autobiografischen Bände von Sigrid Grabner vom 'Jahrgang 42' bis zum 10. November 1989 reicht, schreibt sie im zweiten Teil 'Im Zwielicht der Freiheit. Potsdam ist mehr als Sanssouci' über die Zeit von 1989 bis zur Gegenwart einer bewegenden Wiederbegegnung mit ihrer böhmischen Heimat im Sommer 2018.

Am 29.10.1942 in Tetschen-Bodenbach geboren, ab 1947 in Merseburg. Nach dem Abitur in Halle und einjährigem Praktikum in der Landwirtschaft studierte sie von 1962-1967 an der Berliner Humboldtuniversität Kulturwissenschaft und Indonesienkunde, 1972 Promotion. Seit 1972 freischaffende Schriftstellerin. Sie lebt in Potsdam, war mit dem Schriftsteller und KZ-Überlebenden Hasso Grabner verheiratet und hat zwei Kinder. 1992 Ehrengast der Villa Massimo 2000 Stipendiatin im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf
Ich schrieb wie besessen an der Gandhi-Biografie, in drei Wochen die ersten hundert Seiten. In mein Tagebuch notierte ich: Die Zeit vergeht mir wie im Traum. Ich lebe irgendwie, doch eines Tages mag sich herausstellen, dass diese Zeit für mich ungeheuer wichtig war. Gandhi verändert mich. Er lässt mich meine Positionen präziser bestimmen. Ich erkenne mich, und der Schmerz über die eigene Unvollkommenheit ist heilsam. Die Beschäftigung mit Gandhi ließ mich die Jubelfeiern zum dreißigsten Geburtstag der DDR gelassen ertragen, obwohl die Propagandamaschine noch lauter dröhnte als vor zehn Jahren. Mit jedem Jahr wuchs das Gefühl der Fremdheit gegenüber dem, was sich Sozialismus nannte. In Prag erkannten die tschechischen Behörden dem Schriftsteller Pavel Kohout die tschechische Staatsbürgerschaft ab, verurteilten den Schriftsteller Vaclav Havel zu viereinhalb Jahren Haft wegen 'fortgesetzter konterrevolutionärer Tätigkeit' und schlossen neun Schriftsteller aus dem Schriftstellerverband aus. Zur gleichen Zeit starb in Kambodscha ein ganzes Volk im roten Terror von Pol Pot. Fernsehen, Radio und Zeitungen der DDR berichteten nichts davon. Wenn die Ereignisse nicht mehr zu verschweigen waren, wurden sie als Hetzpropaganda imperialistischer Medien dargestellt. Ich verschloss die Augen nicht vor dem Schrecklichen, was in der Welt geschah, und versuchte, der eigenen Ohnmacht gelassen zu begegnen. Der Mensch sei geformte Zeit, sagte Ruth vorhin am Telefon. Doch diese Zeit - was für eine Zeit? Meine Zeit? Meine Zeit und doch nicht meine. Dennoch - sie weitet sich aus, übersteigt die Grenzen zwischen Leben und Tod auf eine wundersame Weise. Staunend frage ich mich, wer ich bin und wohin ich treibe. Ich sehe die Kinder groß werden und zu sich selbst finden. Sehe die Falten und die grauen Haare, die meine Jahre verraten. Bin ich alt, bin ich jung? Ich bin alt wie die Menschheit und jung wie der Tag, der des Morgens mit seinen Rätseln, Wundern und Verheißungen über den Horizont steigt. Da sind Licht, Duft, Geräusche, sinnliche Gegenwart, in Augenblicken selbstvergessen gelebt, und da ist die Seele, die weit ihre Flügel ausspannt und alles umfängt, was ich nicht greifen kann, the small inner voice, von der Gandhi spricht. In jenen Tagen träumte mir, ich sei im Gefängnis wegen einer Bemerkung, die mir selber gar nicht als staatsfeindlich erschienen war. Ich empfand keine Furcht in dem kleinen dunklen Raum. Zuerst war ich mit einer schwangeren Frau allein, dann kamen immer mehr Gefangene, junge und schöne Menschen. Alle brachten schon längere Zeit im Gefängnis zu und standen kurz vor ihrem Prozess. Sie fragten mich nichts, obwohl ich doch ein Spitzel der Stasi hätte sein können, der belastendes Material gegen sie sammelte. Durch das kleine Fenster drang Glockenläuten. Es war sechs Uhr abends. Die Jungen und Mädchen fassten sich bei den Händen. Ich spürte die Wärme und das Füreinander-Einstehen. So etwas gibt es also, dachte ich freudig, und niemand kann mir das nehmen. Wer hier herauskam, würde sich für die anderen einsetzen. Die jungen Leute erzählten, dass sie sich jeden Abend um sechs Uhr versammelten. Mit einem Lächeln erwachte ich. Glücklich war ich, wenn ich im Schreiben zu mir fand, wenn ich mit den Kindern unterwegs war oder an langen Sommernachmittagen mit Ruth im Garten philosophierte. Doch zwischendurch verlor ich auch immer wieder den Mut. Dann glaubte ich, die Einsamkeit nicht mehr ertragen zu können; nicht die Parolen an den Häuserwänden, in den Zeitungen und auf den Versammlungen, nicht das schweigende Aufbegehren, die bleierne Müdigkeit und die Angst, den Kindern nicht gerecht zu werden. Manchmal kam Kurt zu Besuch. Er bezeichnete sich gern als Jakobs Schüler. Als junger Mann war er aus der amerikanischen Besatzungszone nach Thüringen gekommen, um in der Maxhütte Unterwellenborn zu arbeiten, die zu Jakobs 'Imperium' gehört hatte. Nun bekleidete er den Posten des Produktionsdirektors im Eisenhüttenkombinat Ost. Nach Jakobs Tod stand er mir beim Umzug bei und fuhr mich und die Kinder in seiner russischen Staatskarosse namens Wolga spazieren; er war immer da, wenn ich ihn brauchte. Ich mochte seine Geradlinigkeit. Führende Wirtschaftsfunktionäre durften keine Westkontakte pflegen. Da Kurts Mutter in Wiesbaden lebte, hatte er seinen Arbeitsvertrag nur mit der zusätzlichen Klausel unterschrieben, dass seine Mutter ihn besuchen dürfe, so oft sie das wolle, und ihm im Falle ihres Todes gestattet werde, in den Westen zu reisen, um sie zu beerdigen. Die Mutter schickte ihm regelmäßig Horoskope an seine Dienstanschrift, was jedes Mal einen Aufruhr im Büro verursachte. Kurt, der von Horoskopen überhaupt nichts hielt, dachte nicht daran, seine Mutter zurechtzuweisen. Es ist ihr wichtig, also bleibt es dabei, wies er den Parteisekretär ab. Ende der Siebzigerjahre kündigte er seine Stelle als Produktionsdirektor und begnügte sich mit einem untergeordneten Posten, weil er sich durch die 'sozialistische Misswirtschaft' nicht sein Leben verkürzen lassen wolle. Offiziell gab er gesundheitliche Gründe an, was ihm niemand glaubte. Er wollte sich scheiden lassen und mich heiraten. Seine astrologisch bewanderte Mutter, deren Besuche meine Kinder immer sehnsüchtig erwarteten, weil sie ein gemütliches Hessisch sprach und eine lustige Spielgefährtin war, warnte ihn, unsere Beziehung stünde unter keinem günstigen Stern. Ich war ihr dankbar für den Einspruch, bei Kurt stieß er auf taube Ohren. Er ließ sich dennoch scheiden und heiratete, als ich ihm alles Gute für eine Zukunft ohne mich wünschte, eine andere. Ich hörte nie mehr von ihm, bis ich im Herbst 1989 im 'Neuen Deutschland' seine Todesanzeige las. Herzinfarkt. Wie oft hatte er, der Autobesessene, davon geträumt, seinen Wolga auch einmal westwärts lenken zu können! Ich wollte nicht immer mit Kurt verreisen, der sich mehr für den Zustand der Straßen interessierte als für das, was am Wege lag. So drängte ich meine Mutter, mit mir und den Kindern nach Böhmen zu fahren, was seit einiger Zeit wieder möglich war. Das Verhältnis zwischen ihr und mir war seit meiner Verbindung mit Jakob nie ganz problemlos gewesen, und wir hatten herausgefunden, dass wir uns am besten verstanden, wenn hundert Kilometer zwischen uns lagen und wir uns in regelmäßigen Abständen besuchten. Mutter lebte in Halle-Neustadt. Bis zum Eintritt ins Rentenalter war sie von dort aus zur Arbeit ins Leunawerk gefahren; nun freute sie sich über ihre ferngeheizte Einzimmerwohnung und kümmerte sich in der Volkssolidarität um alte und kranke Menschen. Sie zögerte, auf mein Angebot einzugehen. Würde die Gegenwart ihre Erinnerungen an die alte Heimat nicht zerstören und die Wunden der Vertreibung wieder aufreißen? Andererseits reizte es sie, noch einmal das Dorf ihrer Kindheit und die Gräber ihrer Eltern aufzusuchen. Ich redete ihr gut zu. Aber ich hätte mich doch nie für mein Geburtsland interessiert, wandte sie ein. Das stimmte, aber meiner Gleichgültigkeit lag wohl eine verdrängte Erbitterung über die Vertreibung zugrunde. Meine Eltern konnten dorthin, wo ich geboren worden war, die ersten Worte gesprochen und die ersten Schritte getan hatte, wenigstens in der Erinnerung zurückkehren; mir blieb diese Möglichkeit für immer versperrt. Ich hatte keine Heimat und würde nie eine haben. Als ich Jakob traf, fand ich meine Heimat bei ihm. Durch ihn verband ich mich der Gegend, in der wir uns liebten, Kinder in die Welt setzten, miteinander litten und voneinander Abschied nahmen. Gerrit und Johanna lebten dort, wo sich die frühesten Eindrücke ihres Lebens mit der Landschaft unter dem wechselnden Licht des Himmels, mit Gerüchen und Klängen vermischt hatten. Sie waren von diesen Eindrücken geprägt wie Jakob von seiner Geburtsstadt Leipzig und meine Eltern von der Elblandschaft zwischen Herrnskretschen und Leitmeritz. Wenn ich meine Mutter nicht bat, mir die Orte meiner Herkunft zu zeigen und zu benennen, so empfand ich nun, würde ich bewusst und willentlich das Werk der Vertreibung vollenden. Nach ihrem Tod fiele alles in die Namenlosigkeit. Im Hotel 'Rok' am weitläufigen Markt der alten Bischofsstadt Leitmeritz bezogen wir zwei auch für DDR-Verhältnisse schäbige Zimmer. Auf dem Platz vor den Fenstern hatte meine Großmutter Butter, Quark, Käse und Obst feilgeboten. In der nahen Jesuitengasse hatte meine Mutter als kleines Mädchen während des Ersten Weltkriegs bei Pflegeeltern gelebt. Auf dem Friedhof vor der Stadt fanden wir die Gräber der Großeltern, die lange vor meiner Geburt in den Jahren 1924 und 1935 gestorben waren, auf den Grabsteinen auch die Namen ihrer Kinder. Keines von ihnen war älter als fünfundzwanzig Jahre geworden. Geblieben war nur die jüngste Tochter. Die stand nun, inzwischen Großmutter, vor den Gräbern unter den mächtigen alten Bäumen und weinte. Warum weinst du?, fragte die zehnjährige Enkelin. Weil die Grabsteine mit den Inschriften noch stehen, weil sogar ein Blumenstrauß auf dem Grab meiner Eltern liegt. Wer mag ihn hingelegt haben, wir haben hier doch niemanden mehr. Wir fuhren hinein ins Hügelland nach Kundratitz. In Hlinay stand noch die kleine Schule, die Mutter einst besucht hatte. Endlich das Heimatdorf. Das hundertfünfzig Jahre alte Bauernhaus war eben abgerissen worden, um einem Wochenendhaus Platz zu machen. Auf dem Grundstück, von dem aus der Blick sich ins Gebirge weitete, lagen noch Trümmer. Mutter wies auf dieses und jenes gemusterte oder bemalte Stück Putz: Das war die Schlafkammer, das gehörte in die Wohnstube. Dort war der Glockenstock und da der Gemüsegarten. Sie redete wie ein Archäologe, der interessierten Besuchern zum x-ten Male seine Ausgrabungen erklärt. Dann verstummte sie plötzlich, umrundete allein und in sich gekehrt das Anwes