: Feridun Zaimoglu
: Leyla Roman
: Verlag Kiepenheuer& Witsch GmbH
: 9783462300529
: 1
: CHF 9.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 528
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine Familiensaga aus dem Herzen des Orients Eine anatolische Kleinstadt in den fünfziger Jahren. Hier wächst Leyla als jüngstes von fünf Geschwistern auf, im engen Kreis der Familie und der Nachbarschaft, und hegt einen großen Wunsch: Sie will dieser Welt entkommen. Feridun Zaimoglu wendet den Blick zurück auf das Land, aus dem er mit seinen Eltern kam. Ein Land, erstarrt im Kalten Krieg, in dem ein strenger Glaube den Alltag durchdringt, die Familien dem Vater unterstehen, den Frauen ein bescheidener Platz zugewiesen ist - und in dem all das ins Wanken gerät.Er lässt die heranwachsende Leyla ihren Alltag erzählen, von den Vormittagen in der Schule, den Nachmittagen im Kreise der Schwestern, die an ihrer Mitgift sticken, und dem Leben in der Kleinstadt, in der Armut herrscht und jeder sein bescheidenes Auskommen sucht. Leylas Vater hat keinen Erfolg, verliert seine Anstellung als Bahnbeamter und schlägt sich mit immer windigeren Geschäften durch. Die Brüder gehen ihrer Wege, rebellieren gegen den Vater, die Schwestern warten auf den Mann, der für sie ausgesucht wird, und hoffen auf die große Liebe. Leyla erobert sich kleine Freiheiten, die sie wieder verliert, als sie zur Frau wird. Und sie kommt einem dunklen Familiengeheimnis auf die Spur. Erst der Umzug der Familie nach Istanbul eröffnet neue Möglichkeiten: Leyla lernt einen Mann kennen und verliebt sich, doch die beiden haben keine Zukunft in der Türkei. Mit epischer Kraft und einer sinnenfrohen, farbenprächtigen und archaischen Sprache erzählt Feridun Zaimoglu vom Erwachsenwerden eines Mädchens, dem Zerfall einer Familie und von einer fremden Welt, aus der sich viele als Gastarbeiter nach Deutschland aufmachten.

Feridun Zaimoglu, geboren 1964 im anatolischen Bolu, lebt seit seinem sechsten Lebensmonat in Deutschland. Er studierte Kunst und Humanmedizin in Kiel und schreibt für Die Welt, die Frankfurter Rundschau, Die Zeit und die FAZ. 2002 erhielt er den Hebbel-Preis, 2003 den Preis der Jury beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt und 2005 den Adelbert-von-Chamisso-Preis. Im Jahr 2005 war er Stipendiat der Villa Massimo in Rom. Zahlreiche weitere Preise folgten, u. a. der Grimmelshausen-Preis (2007), der Corine-Preis (2008), der Jakob-Wassermann-Literaturpre s (2010) sowie der Preis der Literaturhäuser (2012). 2016 erhielt er den Berliner Literaturpreis sowie die Ehrenprofessur des Landes Schleswig-Holstein. Nach »Leyla«, »Liebesbrand«, »Siebentürmeviertel« und »Evangelio« erschien zuletzt sein Roman »Die Geschichte der Frau« (nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2019).

– 2 –


Im Eingang des Schulhofs steht mein Lehrer, er schaut mir nach. Meine Vorderseite kann ich endlich vor ihm verbergen, und ich knöpfe meinen weißen Kittelkragen auf, halte beide Enden zusammen, damit er nicht abfällt. Bald wird Blut aus meiner Nase schießen, ich weiß es. Der Bonbonmann hat sich in seine Ladenhöhle zurückgezogen, die von einer Stoffserviette umwickelten Karamelstangen liegen wie Holzscheite im Schaufenster. Am liebsten würde ich stehenbleiben und sie lange ansehen. Dann kommt immer Herr Bonbonmann heraus, gibt mir einen Splitter Süßigkeit. Das Versprechen, das ich meinem Lehrer gab, muß ich einlösen. Sonst bekomme ich einen dritten Verweis und werde eine ganze Woche lang als schlechtes Mädchen angesprochen. Ich gehe weiter und immer weiter, halte den Mund so lange geöffnet, wie ich kann: der Bissen Staubkuchen knirscht zwischen meinen Zähnen. Der Himmel läßt Brot regnen in kleinen harten Teigkrümeln, und wer danach schnappt, kann glücklich werden oder sich daran verschlucken.

Als ich heraufschaue, um einen großen Brocken zu entdecken, nach dem ich greifen kann, sehe ich einen Fellbalg am Fenster im obersten Stock des Hauses, in dem der Schuldirektor wohnt. Er beult sich, es ist Leben in ihm, und plötzlich wird er abgeworfen und fliegt durch die Luft, ein Tierknäuel, ein Wolleball, ein Fell, das jetzt auf den Pflastersteinen vor dem Haus liegt. Fulya steht nackt am offenen Fenster, sie klatscht in die Hände.

Schaut her, schreit sie, zwischen meinen Schenkeln ist ein leckeres Rippchen. Kommt, schnappt es euch!

Ein Mann, den ich kenne, weil er den Mann meiner Mutter freitags zum Gebet abholt, wendet sofort den Blick ab und bittet den Herrn der Strafen, seine Kraft an unzüchtigen Kleinweibern zu zeigen. Zwei verschleierte Frauen beißen das Gesichtstuch fest, damit es nicht verrutscht, sie suchen nach kleinen Steinen im Staub und werfen nach der nackten Fulya. Sie zielen nicht richtig, sie treffen nicht richtig.

Auch ihr Rabenvögel könnt was haben, schreit sie von oben, saftig ist mein Rippchen, es schmeckt allen, mein Rippchen, werft mit Münzen, ihr blöden Vögel, nicht mit Steinen.

Sie verteilt Handküsse und preist sich, und dann trommelt sie auf dem Schätzchen, das ein Mädchen nicht vorzeigen darf. Ihre Mutter ist vom Einkauf zurückgeeilt, sie stößt einen Verzweiflungsruf aus und läßt in ihrer Wut die volle Tasche fallen.

Du Lästerteufelin! ruft sie, du meine Schande und mein Unglück! Zieh’ dich sofort an, geh’ da vom Fenster weg. Na warte, Mädchen, du kannst dich auf was gefaßt machen. Scher’ dich ins Schamzimmer, sage ich, hörst du nicht, was für ein schwarzer Tag, mein Gott!

Komm’ Leyla, schreit Fulya und dreht sich schnell um ihre Achse, lass’ auch dein Rippchen sehen. Ihr Menschen und Männer! Ihr Mäuse und Rabenvögel! Klatscht meinem saftigen Rippchen zu!

Die Schleierfrauen laufen wütend weg, sie sind der kleinen Teufelin nicht gewachsen. Ihre Mutter verschwindet im Haus, und da Fulya weiß, daß sie eine Tracht Prügel bekommen wird, genießt sie die letzte Minute ihrer Verrücktheit.

Süße, rufe ich ihr zu, mach’ jetzt lieber das Fenster zu.

Rippchen! Rippchen! Saftiges Rippchen!

Deine Mutter ist böse auf dich.

Sie soll doch mein Rippchen essen, schreit sie, und dann wird sie am Arm gepackt und in die Wohnung gezerrt.

Das vierjährige Teufelchen schreit auch unter den Schlägen seine lustigen Kinderverse heraus, ihre Mutter schließt schnell das Fenster, und ich gehe weiter. Fulya wird einige Tage Ruhe geben, sich dann aber wieder nackt am Fenster zeigen. Wegen ihr steht Senem Hanim in dem Ruf, besonders schamlos zu sein. Sie sollte nachts ihre Schlafzimmertür schließen, sagt meine Mutter, das Kind lauscht und merkt sich jedes Wort. Senem Hanim hat beteuert, daß sie wirklich nicht weiß, woher ihr Kind diese unaussprechlichen Worte aufgeschnappt hat. Keiner glaubt ihr, und sie läßt ihre Wut an Fulya aus.

Die Glasscheiben des Männercafés sind beschlagen, ich sehe nur Köpfe und Körper, aber kein bekanntes Gesicht. Ich klopfe so lange gegen die Tür, bis der Besitzer heraustritt.

Was willst du? sagt er.

Ist Halid Bey in deinem Haus?

Du willst deinen Vater sprechen? Komm’ doch einfach rein.

Nein, nein, sage ich, ich warte lieber hier draußen. Kannst du ihm bitte Bescheid geben? Mein Lehrer wird böse, wenn ich zu lange ausbleibe.

Er verschwindet im Kaffeehaus, wenig später erscheint der Mann meiner Mutter – er blickt mich an, als hätte man sein Gesicht mit der schwarzen Erde vom Totenacker eingerieben. Er nimmt den Filzkalpak ab, kratzt sich am Kopf und setzt ihn wieder auf.

Was hast du Dummkopf hier zu suchen?

Hier, sage ich und zeige ihm das neue Schulheft, der Herr Lehrer möchte endlich das Geld dafür haben. Deshalb hat er mich zu dir geschickt.

Habe ich euch Drecksbrut nicht gelehrt, daß es für alles eine Frist gibt? Eine Frist für Demut. Eine F