Der Mantel vom letzten Jahr
Das Mantelfutter ist komplett zerrissen. Evie fährt mit dem Zeigefinger über den ausgefransten Saum und überlegt, ob sie die zarten Ränder des zerfaserten Stoffs wieder zusammennähen kann. Sie wendet den Mantel, betrachtet die abgetragene Wolle, die leicht glänzenden Stellen an den Ellbogen, und ihr wird klar, dass es wohl nicht mehr viel Sinn hat.
Sie weiß genau, was sie sich kaufen würde, um ihn zu ersetzen. Sie sieht den anderen zweimal am Tag, wenn sie am Schaufenster der Boutique vorbeikommt. Dann verlangsamt sie ihren Schritt, um ihn zu bewundern. Mitternachtsblau, mit einem silbrigen Lammfellkragen; klassisch genug, um ihn mehrere Jahre lang zu tragen, aber auch so ausgefallen, dass er nicht aussieht wie jeder x-beliebige Mantel von der Stange. Er ist wunderschön.
Und er kostet 185 Pfund.
Also senkt Evie den Blick und geht weiter.
Noch vor kurzem hätte Evie den Mantel gekauft. Sie hätte ihn in der Mittagspause hochgehalten, ihn ihren Kolleginnen vorgeführt und ihn in seiner edlen Tüte nach Hause getragen, und jedes Mal, wenn die Tüte gegen ihre Beine geschlenkert wäre, hätte sie befriedigt deren Gewicht gespürt.
Doch vor einiger Zeit sind sie, ohne je damit gerechnet zu haben, zu offiziellen Mitgliedern derMittelschicht in der Krise geworden. Petes Arbeitszeit wurde unvermittelt um dreißig Prozent gekürzt. Gleichzeitig stiegen die Lebensmittelpreise um fünfzehn Prozent. Benzin ist so teuer, dass sie Evies Auto verkauft haben; jetzt geht sie die zwei Meilen zur Arbeit zu Fuß. Die Heizung, ein Luxus, wird morgens für eine und abends für zwei Stunden angestellt. Die Abzahlungen für das Haus, die ihnen einmal so tragbar erschienen waren, sind jetzt eine schwere Belastung. Sie sitzt abends am Küchentisch, grübelt über Zahlenkolonnen und warnt ihre Töchter vor unnötigen Ausgaben, wie ihre Mutter sie früher vor bösen Männern gewarnt hat.
«Komm jetzt, Schatz. Gehen wir schlafen.» Petes Hände legen sich sanft auf ihre Schultern.
«Ich bin noch mit den Abrechnungen beschäftigt.»
«Dann lass uns kuscheln, um uns warm zu halten. Ich denke dabei natürlich nur an die Heizkosten», fügt er ernst hinzu. «Ehrlich. Ich würde es kein bisschen genießen.»
Ihr Lächeln ist schwach, mehr ein Reflex. Er legt den Arm um sie. «Komm, Süße. Es wird schon gutgehen. Wir haben Schlimmeres überstanden.»
Sie weiß, dass er recht hat. Zumindest haben sie beide noch Arbeit. Einige ihrer Freunde setzen bloß noch ein sprödes Lächeln auf und antworten ausweichend, wenn man sie fragt, ob sie schon einen neuen Job gefunden haben: «Ach … ich hab da noch so ein paar Bewerbungen laufen.» Zwei haben ihre Häuser verkauft und sich aus «familiären Gründen» verkleinert. Viele von ihnen ziehen weg und brechen den Kontakt ab, als würden sie sich dafür schämen, dass sie nicht weiter die Karriereleiter hinaufsteigen.
«Wie geht’s deinem Dad?»
«Ganz gut.» Jeden Abend nach der Arbeit macht sich Pete auf den Weg zu seinem Vater, um ihm etwas Warmes zu essen zu bringen. «Mit dem Auto stimmt irgendwas nicht.»
«Sag das bloß nicht!», ruft sie erschrocken.
«Ich weiß. Ich glaube, der Anlasser gibt den Geist auf. Pass auf», sagt er, als er ihre Miene